Schweizer Familie

Als ihr Sohn auszog, nahm die Familie Stucki Ezmari auf, einen Flüchtling aus Afghanistan. Eine Integrationsgeschichte

Gegen Ende der Reise wies ein Spiel aus seiner Kindheit ihm den Weg. Seine Mutter hatte gesagt: Wenn du dich nicht entscheiden kannst, dann lass deine Finger für dich entscheiden. Schliesse die Augen, und strecke die Arme seitlich aus. Bewege nun deine Zeigefinger ganz langsam aufeinander zu. Entweder deine Fingerkuppen verfehlen einander, oder sie treffen sich.

Genauso hat Ezmari es in dem Restaurant in Wien gemacht, in dem er die Speisekarte nicht lesen konnte und wahllos ein Gericht bestellte. Würden seine Zeigefinger sich verfehlen, würde er nach Norwegen gehen. Würden sie sich treffen, hiesse sein Ziel Switzerland. Seine Fingerkuppen trafen exakt aufeinander.

Der Hausschuh-Vertrag

Am Sonntagabend gibt es Salat und Risotto, gegart im Dampfkochtopf, weil Silvia auf ihren ökologischen Fussabdruck achtet, was sie sich auch von Ezmari wünscht. Silvia und Samuel sind so etwas wie seine neuen Eltern.

Ezmari Nabizadeh ist ein afghanischer Flüchtling und lebt seit einem halben Jahr bei ihnen in dem Einfamilienhaus in Nussbaumen bei Baden. Seit ihr Sohn Claude ausgezogen ist, um in Zürich Musik zu studieren, wohnt Ezmari in dem ruhigen Zimmer im Parterre mit Blick auf die Limmat. Beide sind fast gleich alt, Claude ist 24, Ezmari 21 – jedenfalls steht das in seinem Ausweis. Claude suchte die Freiheit und Ezmari ein Zuhause. Ezmaris T-Shirt vom Jazzfestival in Montreux ist ein Geschenk von Claude. «Ezmari, iss mal, anstatt so viel zu reden», sagt Silvia. In einer halben Stunde beginnt das Konzert, eine moderne Komposition für drei Traversflöten, die Silvia und Samuel sich anhören wollen. Sie müssen den Bus erwischen, und sein Teller ist noch immer randvoll.

Ezmari ist laut Sozialdienst einer von zwölf Geflüchteten im Kanton Aargau , die bei einer Schweizer Familie wohnen, in vielen anderen Kantonen ist das gesetzlich nicht möglich.

Als im vergangenen Jahr kurzzeitig die Einreise für syrische Flüchtlinge erleichtert wurde, haben Silvia und Samuel sich gesagt: Wir haben genug Platz, wenn es in den Asylheimen eng wird, nehmen wir jemanden auf. Ezmari zog vor sieben Monaten ein, vermittelt von Netzwerk Asyl Aargau, einem Verein, der sich für die Integration von Flüchtlingen einsetzt. Zu Beginn haben die drei einen Vertrag unterschrieben: Im Haus bitte nur Hausschuhe tragen, steht darin und: Ezmari kann selbstverständlich in seinem Zimmer Gäste empfangen.

Das Zusammenleben klappt ganz gut. Ezmari räumt den Geschirrspüler aus, wenn er abends heimkommt, und mäht am Wochenende den Rasen. Silvia sieht darüber hinweg, dass er im Kühlschrank Pouletschenkel aufbewahrt, obwohl sie Vegetarierin ist, und einen Toilettenstein mit Plastikgehäuse in die WC-Schüssel hängt, den sie unnötig findet. Von der Miete, die die Gemeinde für Ezmari bezahlt, spenden Silvia und Samuel zwei Drittel an Netzwerk Asyl.

«Wenn es ein Missverständnis gibt, reden wir drüber, gell, Ezmari?», sagt Silvia. Für Ezmari ist es dann schon zu spät. Er will Probleme verhindern, bevor sie entstehen.

 Ankommen

Ohne diese Strategie würde er vielleicht noch immer mit arbeitslosen Afghanen und Eritreern in einer Baracke am Rand von Brugg leben anstatt in diesem schönen Haus mit Garten bei dem pensionierten Chemiker Samuel Stucki und der Linguistin und Atemtherapeutin Silvia Dingwall.

Drei Jahre ist es jetzt her, dass er im Zug auf der Bahnstrecke von Wien nach Zürich sanft von einem Polizisten wachgerüttelt wurde – er war auf Schweizer Boden, er hatte sein Ziel erreicht. Aber hier anzukommen dauert länger. Und man schafft es nicht allein.

«Ihr könnt die Teller stehen lassen», sagt Ezmari, als Silvia und Samuel vom Tisch aufstehen. Als die Haustür hinter ihnen ins Schloss fällt, holt er einen Granatapfel aus dem Kühlschrank, viertelt ihn und klopft mit einem Löffel auf die Schale, damit die Kerne herausfallen.

Mit Samuel hat er einmal im Internet sein Heimatdorf gesucht. Nicht einfach war das, es gibt verschiedene Schreibweisen, die meisten Webseiten sind auf Farsi, erst nach einer Stunde fanden sie heraus, wie der Ort überhaupt auf Englisch heisst: Qarabagh. Er liegt im Osten Afghanistans, zwischen Kabul und Kandahar in der Provinz Ghazni, die von den Taliban kontrolliert wird. Inzwischen berichten die Medien über in der Region eingewanderte Kämpfer des Islamischen Staates.

Das obere Stockwerk liegt noch im Dunkeln, als der Wecker klingelt. Es ist Montagmorgen, 4:45 Uhr. Ezmari duscht sich, zieht die leimverschmierte Hose an, isst ein Müesli mit Früchten, packt die Schutzbrille ein und schleicht sich aus dem Haus.

Dicke Bretter

Die Hess & Co AG in Döttingen ist die letzte Sperrholzfabrik der Schweiz, neunzig Mitarbeiter, acht Produktionshallen. Hier werden Kerne für Ski und Snowboards, Latten für Bettenroste, Stuhlschalen und Tischplatten hergestellt. Qualitätsarbeit seit drei Generationen.

Als Ezmari um kurz nach sieben an der Holzpresse eintrifft, begegnet er dem Betriebsleiter, Herrn Pink. Dieser macht sich wieder einmal Sorgen wegen der Auftragslage. In letzter Zeit hat die Hess AG mit dem starken Franken zu kämpfen, zwei Drittel ihrer Produkte exportiert sie ins europäische Ausland. Einmal hat Ezmari zu ihm gesagt: «Man muss viel verlieren, um zu gewinnen.» Das hat Herr Pink sich gemerkt.

Furnierholzplatten türmen sich bis unter die Hallendecke, Gabelstapler schiessen um die Ecken, es dröhnt und quietscht und riecht nach Sägemehl.

Ezmari ist noch nie Ski oder Snowboard gefahren, aber wie die Bretter von innen aussehen müssen, hat er im vergangenen Jahr gelernt: in der Mitte eine Schicht Koroyd, eine Art grüner Kunststoffwaben, aussen zwei Schichten Pappelholz, weil das besonders leicht ist, und das Ganze mit Leim verklebt. Ezmari ist im Stress, als Herr Pink vorbeikommt, der Leim darf nicht zu trocken werden, bevor er die Furnierplatten in die Presse schiebt.

Für Herrn Pink ist es nicht einfach, Lehrlinge zu finden. Die meisten, die eine Ausbildungsstelle suchen, wollen lieber an schnellen Autos herumschrauben oder in den modernen Büros einer Versicherung arbeiten. «In der Holzbranche hängen die Trauben nicht wirklich hoch», sagt er. «Wir wissen, dass uns hier keine Albert Einsteins zufliegen.»

Wenn jemand spontan bei ihm klingelt, mit der Bewerbungsmappe in der Hand, so wie Ezmari es gemacht hat, kommt das Herrn Pink gelegen. Ein N- oder F-Ausweis, wie Flüchtlinge ihn bekommen, ist kein Hindernis, die Migrationsbehörde hilft mit den nötigen Papieren weiter. Und bisher hat es sich als gute Entscheidung herausgestellt, Flüchtlinge einzustellen. Sie sind Herrn Pinks motivierteste Mitarbeiter. Ezmari darf als erster Lehrling Gabelstapler fahren, und wenn Herr Pink ihn manchmal samstags in sein Büro bestellt, um mit ihm Matheaufgaben zu üben, kommt Ezmari immer pünktlich. Nur sein Deutsch kann noch besser werden. Einen Sprachkurs hätte er erst nach mehr als einem Jahr besuchen dürfen, aber da hatte er schon mit der Lehre angefangen.

Gegenwärtig nicht zumutbar

Ezmaris wahrer Deutschlehrer heisst Bushido. Tagelang hat er im Asylheim die Songs des Gangsta-Rappers gehört, die Texte aufgeschrieben und auswendig gelernt. Die Blätter hat er in einem Ordner abgeheftet, der nun in seinem neuen Zimmer steht. Dort bewahrt er auch andere Dokumente auf, zum Beispiel den eingeschriebenen Brief, in dem das Bundesamt für Migration ihm vor eineinhalb Jahren mitgeteilt hat: «Die Prüfung Ihrer Akten hat ergeben, dass Sie nicht als Flüchtling anerkannt werden können. Ihr Asylgesuch wird deshalb abgelehnt. Da die Rückkehr in Ihren Herkunftsstaat zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch nicht zumutbar ist, werden Sie in der Schweiz vorläufig aufgenommen.» Er bekam, wie die meisten Afghanen, Aufenthaltsbewilligung F.

Heute hört Ezmari einen Podcast, während er die Holzplatten verleimt.

Wenn an der Berufsschule Lenzburg ein Elternabend stattfindet, fährt Herr Pink für Ezmari hin. An dem Tag, als Ezmari bei Samuel und Silvia einzogen ist, hat Herr Pink ihm eine Flasche Prosecco zugesteckt. Wenn ich sehe, dass jemand will, und ich kann ihm mit relativ wenig Einsatz helfen, dann ist das ein Stück Himmelspforte, die ich mir da oben aufreisse, sagt sich Herr Pink. Herr Pink hilft, und Ezmari lässt sich helfen.

Auf seinem Smartphone hat Ezmari ein Foto gespeichert, das ihm seine Mutter kürzlich geschickt hat. Eine Hochzeitsgesellschaft, 53 Personen, Männer in Anzügen mit prächtigen Schnauzern, Frauen in bodenlangen Paillettenkleidern, kleine Mädchen in rosa Tüllröckchen und Lackschuhen. In der Mitte steht eine junge Frau im Brautkleid, mit einem Porzellanteint und einer aufwendigen Hochsteckfrisur. Sie hätte eigentlich Ezmaris Frau werden sollen.

Aber nachdem er, ohne Tschüss zu sagen, mit 9000 Dollar in der Hosentasche zu Fuss über die Grenze in den Iran gegangen war, wurde sie einem anderen versprochen. Ezmaris Mutter hatte ein Stück Land verkauft, um ihm die Flucht zu ermöglichen. Zuvor war der Vater auf dem Heimweg im Auto erschossen worden und der ältere Bruder, der für das US-Militär gearbeitet habe, von Terroristen entführt, wie Ezmari sagt. Taliban, Haqqani-Rebellen aus Pakistan, IS-Kämpfer? Ezmari weiss es nicht. Er war nicht zu Hause in der Nacht, als die Männer kamen, vermummt, mit Kalaschnikows. Sie fesselten seine Mutter und seine Schwestern und nahmen den Bruder mit, von dem bis heute jedes Lebenszeichen fehlt.

Lieber ein paar schöne Bilder

Um neun Uhr ist Pause in der Fabrik, und Ezmari, der leichte Kopfschmerzen hat, holt eine Packung Kekse aus seinem Rucksack.

«Woher hast du die?», fragt sein Arbeitskollege, der aus dem Kosovo stammt. «Hab ich meiner Mutter geklaut», sagt Ezmari zum Spass.

Dabei hat er seit zwei Monaten nicht mehr mit ihr sprechen können, zu schlecht ist die Internetverbindung. Beim letzten Gespräch hat sie ihm erzählt, bei einer Bombenexplosion seien alle Fenster im Haus zersplittert.

Der Kollege lädt ihn auf einen Kaffee aus dem Automaten ein. Ezmari verdient 680 Franken im Monat, minus die zehn Prozent, die das Migrationsamt abzieht. Er hat ausgerechnet: Würde er jeden Mittag einen Döner Kebab kaufen, wäre die Hälfte seines Monatslohns aufgebraucht. Deshalb bringt er das Essen in einer Tupperware-Box mit.

Vielleicht kommen die Kopfschmerzen daher, dass er gestern Abend wieder einmal zu lange in sein Smartphone geguckt hat. Das Foto des ertrunkenen Dreijährigen, das um die Welt ging, Ezmari hat es auf Facebook gepostet. Irgendwann klopfte Silvia an seine Zimmertür, um ihm eine gute Nacht zu wünschen.

«Ezmari, schau dir nicht zu viele schreckliche Bilder an», sagte sie, «lieber ein paar schöne Bilder, so kurz vor dem Schlafengehen.» Das Thema Flüchtlinge ist überall, es beherrscht die Gratiszeitungen, die Radionachrichten, die Infofenster in den Bussen, die Facebook-Timelines.

Flüchtlingsstrom – ein seltsames Wort, es klingt, als würde da eine leblose Masse heranschwappen. Und doch ist es Ezmaris Leben, von dem die vielen Push-Meldungen und Sondersendungen handeln. Auch er ist mit einem Schlauchboot über den Fluss Evros gepaddelt, während die Grenzpolizisten in ihren Schnellbooten vorbeizischten – beinahe wäre er gekentert, weil sein Mitfahrer mit der Zigarette ein Loch ins Gummi brannte, sagt er.

Er hat Baumrinde gegessen, in einer griechischen Gefängniszelle gesessen und gehofft, dass Angst und Entbehrung sich auszahlen werden und es im friedlichen, reichen Europa einen Platz für ihn gibt.

Ezmari ist der erste Schüler, der am Donnerstagmorgen das Klassenzimmer der 2aAHO betritt. Nur Herr Zimmermann, der Lehrer für Allgemeinbildung, ist bereits da.

Die Berufsschule Lenzburg ist ein moderner Bau mit 2500 Schülern, gut gelaunten Lehrern und einem frisch zubereiteten Mittagsmenü für 9.20 Franken. «Guten Morgen, Herr Zimmermann», sagt Ezmari, der ein frisch gebügeltes Hemd trägt, und setzt sich in die erste Reihe. Herr Zimmermann unterrichtet seit 41 Jahren. Als er angefangen hat, gab es keine ausländischen Schüler. Heute haben drei der neun Schüler in der 2aAHO einen Migrationshintergrund: Ezmari, ein Bulgare und ein Marokkaner. Als die Mitschüler eintreffen, junge Männer um die zwanzig, in bedruckten Kapuzenpullovern, steht Ezmari auf und begrüsst jeden per Handschlag, «Hi Dominik! Simon, wie geht es dir?»

Es ist auch eine Flucht nach vorn. Donnerstag ist nicht nur der Wochentag, an dem Ezmari den Eimer mit Leim gegen Papier und Kugelschreiber eintauscht. An dem Tag halten auch die Anti-Ausländer-Plakate, die in Bahnhöfen, an Laternen und Hauswänden hängen, Einzug in sein eigenes Leben.

«Die können sich nicht benehmen»

Herr Zimmermann möchte heute mit der Klasse über Flüchtlinge sprechen. «Was löst das Thema bei Ihnen aus?», fragt er und lässt seinen Blick von einem Schüler zum anderen schweifen. Ezmari schaut auf sein Pult. Hinter ihm macht einer den Anfang: «Die können sich nicht benehmen.»

«Das ist deine Meinung, die darfst du haben», sagt Herr Zimmermann. «Aber wie kommst du darauf?»

Der Schüler berichtet von Fotos in einer Gratiszeitung, auf denen von Flüchtlingen verwüstete Züge zu sehen waren. Der bulgarische Schüler lacht verächtlich. Vor drei Jahren hat seine Mutter ihn in die Schweiz geholt, Familiennachzug. Er ist nicht geflüchtet wie Ezmari, sondern mit gültigen Papieren eingereistMit dem Kinn nickt er in Richtung seines Mitschülers.

«Schweizer wie der da sagen immer, wir sollen uns integrieren, aber sie lassen uns gar nicht. Ich war mal auf einer Party, wo Frauen Zigis verkauft haben, und ich wollte das auch machen, und dann hiess es, das geht nicht, weil ich nur eine B-Bewilligung habe.»

«Zum Glück. Bei euch wissen wir ja nicht, was drin ist», murmelt ein anderer. Laut genug, dass alle es hören.

Bulgarien, Marokko und Afghanistan liegen auf drei verschiedenen Kontinenten, haben unterschiedliche Sprachen und Religionen, aber in der Klasse 2aAHO zählt an manchen Donnerstagen nur der Stempel «Ausländer».

Ezmari mag das Wort nicht, er spürt, dass es oft abwertend gebraucht wird. In den Pausen redet er meistens mit dem bulgarischen und dem marokkanischen Mitschüler, den anderen traut er nicht. Der Sportlehrer ist dazu übergegangen, die Handballteams selbst zu bestimmen. Wenn er wählen lässt, spielen immer Schweizer gegen Ausländer.

Ein langer Weg

Seine Schulkameraden kann man sich nicht aussuchen, seine Freunde schon. Ezmaris bester Schweizer Freund heisst Kevin. Für Samstag sind sie verabredet. Seine afghanischen Freunde kennt Ezmari von der Flucht, sie sind wochenlang gemeinsam mit einem GPS-Gerät durch Europa gewandert. Kevin war irgendwann einfach da. Mit einer weissen Sonnenbrille und einem schwarzen Fiat Punto, in dem lauter Deutsch-Rap läuft, Megaloh zum Beispiel, natürlich auch Bushido. Voraussetzung ist, sagt Kevin immer, dass die Texte ein bisschen Sinn machen.

Kevin ist 23 und arbeitet auf dem Bau. Wenn er frei hat, dann fährt er zur Asylunterkunft in Villmergen, jenem dreistöckigen Riegel aus Beton, in dem auch Ezmari gewohnt hat, bevor er bei Samuel und Silvia eingezogen ist. Manchmal holt Kevin dort ein paar Flüchtlinge ab und kocht zu Hause für sie. Er geht mit ihnen fischen, hilft mit Formularen. Ezmari war schon oft bei Kevin. Sie sind zusammen durch Baden geschlendert, haben bei Kevin zu Hause Filme geschaut oder auf dem Balkon grilliert.

«Kevin ist wirklich sehr nett», sagt Ezmari, und damit ist alles gesagt.

Noch zwei Tage, dann ist endlich Wochenende. Ezmari schreibt jetzt mit der rechten Hand Sätze in sein Schulheft, obwohl er eigentlich Linkshänder ist. Er lebt ja auch in der Schweiz, obwohl er ursprünglich nach Norwegen wollte. Er lernt jetzt die Eigenschaften von Tannenholz auswendig und prägt sich die Funktionsweise eines Kettenrollzuges ein, statt an einer Universität zu studieren, wie er sich das während seiner Flucht ausgemalt hatte. Elektrotechnik vielleicht. Oder Medizin. Seiner Mutter würde er damit eine grosse Freude machen. Falls er jemals nach Afghanistan zurückkehren wird, könnte er Häuser elektrifizieren oder Verletzte behandeln. Herr Pink, Ezmaris Lehrmeister, sagt: «Die Holzbranche ist sehr durchlässig.» Ezmari ist gut im Rechnen und schnell im Begreifen. Das hier ist der Anfang.

«Ezmari», fragt Herr Zimmermann, um auf das Unterrichtsthema zurückzukommen, «haben Sie schlimme Erinnerungen an Ihre Flucht, man sagt dazu Trauma?»

Ezmari zögert. «Ich war zwölf, da war ich mittags auf der Strasse. Da gab es zwei Bombenexplosionen, plötzlich waren da ganz viele Leute, es fielen Schüsse, das war so ein Moment.»

Er redet nur ungern über früher, denn der Weg in sein altes Leben ist abgeschnitten. Käme er jetzt nach Qarabagh, würde sich blitzschnell herumsprechen, dass er in Europa war, dass er vielleicht reich geworden, dass er möglicherweise vom Glauben abgefallen ist.

«Die Politik in Afghanistan wird immer schlimmer. Der Präsident ist gar nicht sympathisch, er denkt nur an sich», sagt Ezmari.

Als er aufbrach, hatte er noch keinen Bartwuchs und auch kein Ziel. Er ging weg, weil seine Mutter es wünschte. Weg von den Explosionen. Weg von den vermummten Männern, die durchs Dorf schlichen und ihn aus der Ferne beobachteten. Vielleicht wäre er im Nachbarland Iran geblieben, wenn nicht die Zivilpolizisten gewesen wären, die ihn für einen Drogendealer hielten und mit Elektroschockern quälten.

Es war eine lange Reise von Afghanistan bis in die Schweiz. Die Wahrheit ist: Sie hat etwa sieben Jahre gedauert. So genau weiss Ezmari es nicht, Zeit ist nicht so wichtig in Afghanistan. Was er weiss: Als er beim Bundesamt für Migration behauptete, er habe die Strecke innerhalb von sechs Wochen zurückgelegt, hat er nicht die Wahrheit gesagt. Er dachte, er könne sich mit einer kleinen Lüge viele komplizierte Fragen ersparen. Warum waren Sie so lange im Iran? Wie haben Sie unterwegs Geld verdient? Welche Route sind Sie gelaufen? Aber die Fragen kamen trotzdem, und die kleine Lüge zog viele weitere nach sich. Es war sein einziger Fehler, doch er wuchs zum Fehler seines Lebens.

Er verstrickte sich in Widersprüche, und sein Asylgesuch wurde abgelehnt.

Ezmari redet jetzt über seine Wochenenden in der Schweizmehr mit sich selbst als mit den Mitschülern. «Wenn ich traurig bin und meine Mutter vermisse, dann fahre ich immer Velo.» Im Wald, wenn er nur an den holprigen Boden unter seinen Rädern denkt, wenn es so steil bergab geht, dass er beinahe vornüberkippt und das Adrenalin gegen seine Schläfen pocht, kann er sein Leben für einen Moment auf Pause schalten.

«Huere Rassischte!»

Herr Zimmermann erklärt gerade, welcher Erfolg es ist, dass der Ständerat am Tag zuvor die Asylreform beschlossen hat.

«Endlich können die Anträge von Flüchtlingen schneller bearbeitet werden», sagt er.

Zimmermann wählt SP und macht kein Geheimnis daraus, dass er sich das auch von seinen Schülern wünscht. Aber diejenigen, die er leicht überzeugen könnte, besitzen keinen Schweizer Pass – also auch kein Stimmrecht. Und die anderen loben die Partei mit den Anti-Ausländer-Plakaten – manche aus Überzeugung, manche aus Trotz.

«Huere Rassischte», sagt der Bulgare und nickt in die Richtung seiner Schweizer Mitschüler. «Ezmari, gleich verprügeln wir sie!»

Ezmari schaut höflich zur Wand. Aus Schlägereien hält er sich nach Möglichkeit heraus. Bevor er in der Türkei in das Schlauchboot stieg, hat er dem Schlepper mit einer Holzstange eins übergezogen, weil der ihm die Schwimmweste wegnehmen wollte. Damals ging es um Leben und Tod, jetzt geht es nur um verletzten Stolz. Wenn Ezmari richtig mitgerechnet hat, dann hat der Bulgare schon 400 Franken Strafe an die Schule bezahlen müssen. Wegen Schwänzen, Stören im Unterricht, Schlägereien. Jeder Verstoss gegen die Schulordnung kostet 25 Franken.

Ezmari hat bisher keinen einzigen Eintrag, und er will, dass es so bleibt.

Als der Schultag fast überstanden ist, die Stühle schon umgekehrt auf die Tische gestellt sind, damit die Reinigungsleute den Boden putzen können, und alle darauf warten, dass die Glocke läutet, stellt sich ein Schweizer Mitschüler neben Ezmari. Er will etwas sagen, etwas Versöhnliches.

«Ezmari, fährst du auch mit dem Zug nach Baden?», fragt er dann.

«Ja», sagt Ezmari.

«Auch mit der S23?»

«Ja, genau, so wie immer», antwortet Ezmari mit einem kleinen Lächeln.

Am Samstag ist schönstes Herbstwetter. In dem Tiergeschäft, in dem Kevin Futter für die Fische in seinem Aquarium kauft, sitzen flauschige Gold- und Zwerghamster in Käfigen, die mit Streu ausgelegt sind. Sie stammen alle aus Syrien. Die Heimat des Leopardgeckos, der neben einem Ast in seinem Terrarium sitzt, liegt in Afghanistan.

«Hast du so einen schon gesehen?», fragt Kevin Ezmari und zeigt auf das gelb-schwarz gemusterte Tier.

Ezmari hat schon viele Reptilien gesehen, ob es aber genau diese Art war, das kann er nicht mehr sagen.

Einmal hat er sich selbst wie eine Schlange gefühlt. «Ich habe mich komplett … wie heisst das Wort … gehäutet.» Das war, nachdem er das Gebirge zwischen dem Iran und der Türkei durchquert hatte. Sieben Tage lang in sengender Hitze, sieben Nächte lang in eisiger Kälte. Vom ganzen Körper blätterte die verbrannte Haut ab.

Kevin kennt die Geschichte vom Interviewtermin beim Migrationsamt. Er hatte sich den Tag freigenommen, um Ezmari in seinem Auto nach Bern zu fahren. Er habe mal erleben wollen, wie so eine Anhörung abläuft. Kevin nahm noch einen Freund mit, und die Mitarbeiterin fragte Ezmari zur Begrüssung: «Sind das Ihre beiden Bodyguards?»

Kevin hat auch nicht viel Geld oder Zeit, aber was er hat, das teilt er. Heute hat er auf dem Weg zu Ezmari in Villmergen einen Afghanen abgeholt, der vor elf Monaten in die Schweiz gekommen ist. Neuerdings stehen da grüne Militärzelte auf dem Vorplatz, weil im Gebäude nicht genug Betten Platz haben.

In der reichen Schweiz soll es nicht möglich sein, dass jeder Mensch ein festes Dach über dem Kopf hat? Das will Kevin nicht in den Kopf. Er verbringt gern Zeit im Asylheim, dann sitzt er im Schneidersitz zwischen zwölf Eritreern und isst mit den Händen Fladenbrot, Schmortopf und gekochte Eier in scharfer Tomatensauce.

Wenn man Kevin fragt, warum er so viel Zeit mit Flüchtlingen verbringt, dann sagt er: «Es interessiert mich.» Es sei ein bisschen, als würde er Ferien machen, ohne wegzufahren.

Würde er noch einmal loslaufen?

Ezmari würde Kevin gern öfter treffen, aber unter der Woche hat er kaum noch Zeit. Nach der Arbeit geht er ins Fitnessstudio und zur Physiotherapie, hilft anderen Afghanen mit seinen Deutschkenntnissen, arbeitet als Freiwilliger beim Roten Kreuz, macht Hausaufgaben für die Schule und löst Matheübungen für Herrn Pink. Wenn immer möglich, nimmt er statt der S-Bahn den Regioexpress, um nach Zürich zu fahren, das geht fünfzehn Minuten schneller.

Manchmal wundert er sich über dieses Land, in dem die Kinder ihren Eltern Miete zahlen und wo er, wenn er jemandem zum Abschied wünscht, er möge jeden Augenblick seines Lebens aus vollem Herzen geniessen, gefragt wird, ob er schwul sei. Können die Menschen hier vielleicht mit so viel Freundlichkeit nicht umgehen? Andererseits ist es das Land, in dem er Silvia und Samuel, Herrn Pink, Kevin und Herrn Zimmermann kennengelernt hat. Menschen, die ihm Vertrauen schenken und Türen öffnen, sich Sorgen machen, wenn er mit dem Velo stürzt, und sich freuen, wenn er in der Schule eine gute Note bekommt.

Ob er noch einmal loslaufen würde, wenn er sein Leben zurückdrehen könnte? Noch einmal die beschwerliche Reise, die neue Sprache, das unerträgliche Heimweh? Er weiss es nicht. Inzwischen kommt ihm alles so normal vor. Seine afghanischen Freunde beschweren sich in letzter Zeit öfter: «Du bist ganz anders als die Afghanen, viel mehr wie die Menschenhier in der Schweiz. Wieso bist du nur so geworden?»

Vielleicht wäre es gar nicht mehr so einfach, nach Afghanistan zurückzukehren. Nicht nur wegen der Explosionen.

Ezmari und Kevin sind jetzt bei Media Markt, sie laufen vorbei an den endlosen Regalen. Kevin möchte CDs kaufen, Ezmari hätte gern eine Kamera. Am besten mit einem Objektiv, mit dem man sehr weit zoomen kann. Mit einem F-Ausweis darf man aber nicht in Raten zahlen. Kevin bietet an, mit seiner Kundenkreditkarte zu bezahlen.

Ezmari redet seit Wochen davon, welche Fotos er machen wird von Geburtstagsfeiern und Hochzeiten, von Sprüngen mit dem Velo, von Schloss Lenzburg, vom Sternenhimmel morgens um fünf, wenn er aufsteht, vielleicht sogar von seinen Mitschülern.

Er will alles festhalten. Sein ganzes neues Leben.

Erschienen in Das Magazin am 10. Oktober 2015 und ausgezeichnet mit dem Zürcher Journalistenpreis 2016. 

Wie es weiterging: 

Ezmari Nabizadeh hat im Frühsommer 2016 seine Anlehre bei der Sperrholzfabrik Hess & Co AG in Döttingen erfolgreich abgeschlossen und einen unbefristeten Vertrag erhalten. Im Frühjahr 2017 ist er mit Gleichaltrigen in eine WG gezogen.