Krieg oder Frieden?

Erschienen in DAS MAGAZIN, 3. Februar 2018

In keinem Land leben so viele Muslime wie in Indonesien. Dank der religiösen Erziehung in den Zehntausenden Koranschulen herrscht dort ein liberaler Islam vor. Wie lange noch?

Arina ist siebzehn Jahre alt, ihre Lieblingsfarbe ist Pink, und ihren Alltag diktiert Allah. Vor Sonnenaufgang entrollt sie ihren kleinen goldenen Teppich auf dem Boden der Moschee, richtet den Blick nach Mekka und beginnt zu beten. Ihr Körper ist von der Stirn über die Handrücken bis zu den Zehenspitzen in ein weisses Gewand gehüllt, zu ihren Füssen liegt in einem rosa Mäppchen der Koran. Neben ihr knien Hunderte Mädchen auf ihren Teppichen und wispern arabische Verse. Es sind die Schülerinnen der Koranschule «Kebon Jambu» auf der indonesischen Insel Java.

In Indonesien, dem Land mit den meisten Muslimen weltweit, gibt es viele Millionen Kinder wie Arina. Gläubig zu sein, ist hier keine Frage der persönlichen Vorliebe, sondern Schicksal. Glaubensfragen bestimmen Alltag und Politik. Atheismus ist verboten, wer die Existenz Gottes bestreitet, kann zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt werden. Was bedeutet das? Werden diese Kinder später alles Westliche ablehnen? Frauen in kurzen Röcken anspucken, sich Sprengstoffgürtel umschnallen und Nachtklubs in die Luft jagen? Wir wissen es nicht. Denn der Koran ist – genau wie die Bibel – ein jahrtausendealtes Buch. Aus einer Zeit, als die Menschen in Zelten lebten und auf Kamelen ritten. Seine Verse müssen neu interpretiert werden. Und es ist ziemlich entscheidend, wer diesen Job heute macht.

Wenn wir Glück haben, ist es jemand wie Masriyah Amva, die Rektorin an Arinas Koranschule.

Die 57-Jährige sitzt in einem Kleid aus gelber Rohseide auf einem Sofa, draussen wird es langsam hell. Masriyah Amva bestimmt, was die 1500 Mädchen und Buben lernen, wie oft sie beten, wovon sie träumen. Die Koranschule «Kebon Jambu» ist eine der grössten Indonesiens. Und Masriyah Amva eines der wenigen weiblichen Oberhäupter. «Wer sagt, im Koran stehe, dass Frauen ihren Männern dienen müssen, der irrt», sagt sie.

Ihr liegt nicht nur der Feminismus am Herzen, sondern auch der Respekt vor anderen Religionen. Sie will in ihrer Schule Bürgerinnen und Bürger heranbilden, die allen gleich viel zutrauen, ob Frau oder Mann. Die den Dschihad nicht als Aufruf zum Töten verstehen, sondern als Anstrengung, ein besserer Mensch zu werden.

Die zierliche Erscheinung von Masriyah Amva, ihr sanfter Blick und die vornehme Wortwahl täuschen darüber hinweg, wie viel Kraft diese Mission sie Tag für Tag kostet. Sie kämpft an zwei Fronten. Auf der einen Seite gegen muslimische Fundamentalisten und auf der anderen gegen die Vorurteile des Westens gegenüber dem Islam. Ihre Waffe in diesem Kampf ist der Koran.

Mehr als fünf Prozent der Kinder in Indonesien besuchen eine der schätzungsweise 29 000 Koranschulen des Landes. Vor allem arme Familien schicken ihre Kinder hierher. Weil die Schulen billig sind – Unterkunft, Ausbildung und Verpflegung kosten umgerechnet 250 Franken im Jahr – und weil die Eltern glauben, dass ihre Kinder hier gut auf das Leben vorbereitet werden. Den Islam zu kennen, kann in dieser frommen Gesellschaft ein beruflicher Vorteil sein, wie bei uns Spanisch oder Programmieren.

Vorbild werden

Arina ist um drei Uhr nachts aufgewacht, wie jeden Tag. Der Lärm von Löffeln, die auf leere Plastikflaschen klopfen, riss sie aus dem Schlaf. Wer nicht aufsteht, kriegt den Stock der Lehrer zu spüren oder kaltes Wasser ins Gesicht. Das Gebet vor Sonnenaufgang ist sunna – ein unverbindliches Angebot des Propheten Mohammed an alle Muslime, wie die Fastentage ausserhalb des Ramadan.

Die meisten Indonesier lehnen dankend ab. Aber die Väter und Mütter schicken ihre Kinder nicht von entlegenen Inseln hierher, damit sie morgens ausschlafen, sondern damit sie gute Muslime werden, Vorbilder für alle anderen.

Das ist die Aufgabe von Masriyah Amva. Die Frage ist nur: Was genau ist ein guter Muslim, eine gute Muslimin?

Um halb sechs beginnt für Arina der Religionsunterricht. Das Thema: der Haddsch, die grosse Pilgerfahrt nach Mekka, eine der fünf Säulen des Islam. Dreissig Mädchen sitzen im Schneidersitz auf dem Boden, in Arinas Schoss stapeln sich farbige Bücher, es sind die Handlungsanweisungen des Propheten Mohammed. An der Koranschule lernen die Kinder islamisches Recht, die Interpretation des Korans und arabische Grammatik, alles über Allahs Schöpfung und die Ausübung der Religion. Für die weltlichen Fächer besuchen sie eine staatliche Schule. «Bevor ihr den Weg nach Mekka antretet», sagt der Lehrer, «müsst ihr euch innerlich darauf vorbereiten. Ihr müsst einen starken Wunsch verspüren.» Arina kritzelt indonesische Übersetzungen zwischen die arabischen Zeichen in ihrem Buch. Schon ihr Vater hat diese Schule besucht, auch ihr Bruder ist hier. Eines Tages möchte sie in das Dorf zurückkehren, in dem sie aufgewachsen ist, und dort den Islam lehren – so wie ihr grosses Vorbild, die Schulleiterin.

Händchen halten

Indonesien ist eine Demokratie, aber seit Jahren gewinnen – wie in vielen Ländern – die islamischen Hardliner an Macht. Es ist ein schleichender Prozess mit dramatischen Folgen. Die indonesische Provinz Aceh beispielsweise hat seit 2001 schrittweise die Scharia eingeführt. Inzwischen werden dort jedes Jahr Hunderte Frauen und Männer öffentlich ausgepeitscht, weil sie Händchen halten oder Jeans tragen. Frauen dürfen in Aceh abends nicht mehr allein das Haus verlassen.

Ein anderes Beispiel: Mit Diplomatie und Aufklärungsarbeit war es fortschrittlichen Politikern gelungen, die weibliche Genitalverstümmelung landesweit zu verbieten. 2013 wurde das Verbot wieder aufgehoben. Religiöse Führer hatten in einer Fatwa, einem islamischen Rechtsgutachten, erklärt, die Beschneidung sei für Frauen eine Voraussetzung, um den Islam zu praktizieren.

Im vergangenen Frühling kostete dann eine unbedachte Bemerkung den Gouverneur von Jakarta die Wiederwahl. Im Wahlkampf hatte er kritisiert, Hardliner sollten nicht den Koran missbrauchen, um der Bevölkerung auszureden, ihn zu wählen. Der Gouverneur ist Christ, er gehört zur chinesischen Minderheit und war sehr beliebt. Nun behaupteten seine politischen Gegner, mit dieser Äusserung beleidige er Allah. Sie riefen zu Demonstrationen auf, kurz darauf wurde der Gouverneur erst abgewählt und dann vor Gericht gestellt. Das Urteil: zwei Jahre Haft. Nun sitzt der Mann im Gefängnis. Eine Strafe, die symbolisch ist für den neuen Zeitgeist.

Allahs Stellvertreterin

Masriyah Amva hatte nie vor, Rektorin zu werden. Bis 2006 leitete ihr Ehemann die Schule, die zwischen Reisfeldern und Bananenpalmen am Rand des Dorfes Ciwaringin liegt. Als er krank wurde und starb, drohte der privaten Schule, die seit Generationen von den Männern in ihrer Familie geführt worden war, die Schliessung. Also entschloss sich die Witwe, die Leitung zu übernehmen.

Masriyah Amva wusste, was einen guten Lehrer ausmacht, wie das Gebet angeleitet wird, wodurch man die Aufmerksamkeit pubertierender Knaben gewinnt. Lang genug hatte sie ihrem Ehemann über die Schulter geschaut. Aber als die Nachricht vom Tod ihres Mannes sich herumsprach, reisten Väter und Mütter an und holten ihre Kinder ab. Eine Frau als Rektorin? Wie sollte das gehen? Unsere Kinder werden dumm bleiben! In den Schlafräumen wird Chaos ausbrechen! Das verstösst gegen den Koran!

Masriyah Amva zog sich in ihre Gemächer zurück. Tat sie das Falsche? Verärgerte sie Allah? «Grosser Gott, ich bin schwach, und du bist stark», betete sie. «Lass mich ein Zeichen deiner Herrlichkeit sein.» Plötzlich wurde ihr klar: Sie hatte den Ausweg gefunden. Sie rief ihre Schülerinnen und Schüler in die Moschee und verkündete feierlich: «Ihr wisst, dass mein Mann verstorben ist. Ich habe lange nach einem Nachfolger gesucht, nun habe ich ihn endlich gefunden: Es ist Allah der Allmächtige. Ich werde seine Stellvertreterin sein.» Von diesem Tag an verliess kein Kind mehr die Schule. Stattdessen kamen viele neue.

Was Masriyah Amva damals begriffen hat: Zwar ist der Verweis auf Allah manchmal ein Problem, er kann aber auch die Lösung sein. Man muss die Sache nur richtig angehen.

Sie erhebt sich vom Sofa und macht ein paar Schritte hinaus auf die überdachte Terrasse. Von hier überblickt sie den grossen Hof, die Moschee der Knaben, deren Schlafräume und das Eingangstor. Die privaten Gemächer der Rektorin bilden das Herz der Schule – aus dem Salon führt eine Hintertür in das Reich der Mädchen. Zu Zeiten ihres Ehemanns lebten auf dem Gelände 500 Jugendliche, heute sind es 1500, dreimal so viele. Die Jüngsten sind zwölf, die Ältesten über zwanzig. Sie schlafen, essen und leben rund um die Uhr hier. «Niemals hätte ich gedacht, dass ich in der Lage wäre, eine so grosse Schule zu leiten», sagt sie. Dass Allah der Chef ist, erwähnt sie nicht mehr. Sie trifft alle Entscheidungen selbst, auch wenn es die Anschaffung eines neuen Mülleimers ist.

«Das ist überhaupt nicht in meinem Sinn», murmelt sie mit einem missbilligenden Blick auf den Hof, wo Arbeiter Stühle hinstellen und eine Bühne aufbauen. Ihr Neffe will in Cirebon, der 300 000-Einwohner-Stadt, in der die Schule liegt, Gouverneur werden. Und er hat sie gebeten, eine Rede in der Schule halten zu dürfen. «Das konnte ich ihm nicht abschlagen, er gehört ja zur Familie.» Auch wenn sie ihn für einen guten Politiker mit modernen Ideen hält, ihre Schützlinge hätte sie doch lieber aus dem Wahlkampf herausgehalten. Sie schlüpft in ihre schwarzen Lacksandalen mit Keilabsatz und beobachtet das Treiben mit verschränkten Armen.

In einem Land wie Indonesien sind Koranschulen auch für die Politiker wichtig: Wer die Kinder und ihre Eltern hinter sich hat, der rückt der Macht näher. Das weiss auch Masriyah Amvas Neffe.

Kampf um den Koran

Im vergangenen Jahr hat die Wahid-Stiftung aus Jakarta eine Studie zum Thema Radikalisierung in Indonesien veröffentlicht. Die Studie wurde viel diskutiert, weil sie zum Schluss kam, dass 7,7 Prozent der muslimischen Bevölkerung Indonesiens mit dem radikalen Islam sympathisieren und 0,4 Prozent ihn mindestens einmal aktiv unterstützt haben.

In der globalen Terrorfirma Islamischer Staat spielen Indonesier zwar kaum eine Rolle – aus jedem europäischen Land stammen vergleichsweise mehr Kämpfer. Aber das Land hat seine eigenen Terrormarken. Die bekannteste heisst Jemaah Islamiyah. 2002 töteten deren Mitglieder auf Bali mit einer Autobombe mehr als zweihundert Menschen, hauptsächlich Touristen, drei Jahre später explodierten Sprengsätze auf der Ferieninsel. Seither verübten die Islamisten weitere Attentate. Zuletzt starben vor einem Jahr in Jakarta in einer Busstation zehn Menschen, darunter drei Polizisten. 0,4 Prozent Terroristen – das mag nach wenig klingen, aber bei 200 Millionen Muslimen sind das achttausend potenzielle Selbstmordattentäter.

Es ist ein Ringen zwischen Gut und Böse. Auf dem Spiel steht die Deutungshoheit über den Islam. «Wer behauptet, Allah erlaube Gewalt, interpretiert den Koran falsch», sagt Masriyah Amva. «Viele Muslime denken, die wörtliche Lesart, wie sie im arabischen Raum praktiziert wird, sei die einzig richtige, weil der erste Teil des Korans aus Saudiarabien stammt. Aber diese dogmatische Interpretation widerspricht unserer Kultur.»

Saudiarabien betreibt seine Kulturdiplomatie auf der ganzen Welt, aber Indonesien ist die grösste Bühne. Über hundert Koranschulen wurden in den letzten Jahren mit saudischen Geldern gegründet, und es werden schnell mehr. An vielen Schulen unterrichten Lehrer aus dem Mittleren Osten, die Bücher sind auf Arabisch, und die Schülerinnen und Schüler dürfen mit Stipendien in Riad studieren. Mit den Lehrern und Büchern wandert eine Kultur ein, die Masriyah Amva Sorgen bereitet: An der ersten saudischen Universität in Jakarta tragen die Studierenden lange weisse Gewänder, und die Frauen dürfen den Vorlesungen nur per Videoübertragung in einem abgetrennten Raum lauschen.

Masriyah Amva fährt einen SUV mit roten Ledersitzen und findet, Frauen sollten genau dieselben Rechte und Pflichten haben wie Männer. Sie warnt ihre Schülerinnen und Schüler davor, zu früh zu heiraten. Lieber sollen sie zuerst auf Reisen gehen und Erfahrungen sammeln. Sie bringt ihnen bei, andere Meinungen und Glaubensrichtungen zu respektieren. Pluralismus ist in ihren Augen ein universeller Wert, den auch Muslime hochhalten sollten, denn er ist Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben.

Feministische Islamgelehrte

Von den Blättern des Mangobaums tropft warmer Regen. Auf Masriyah Amvas Terrasse treffen die lokalen Würdenträger ein. Männer mit schwarzen Hüten, in bunten Hemden und Sarongs. Manche tauschen herzliche Worte mit der Gastgeberin, andere nicken ihr zu und setzen sich auf den Teppichboden. Es sind ehemalige Schüler, Rechtsgelehrte, Oberhäupter anderer Koranschulen und Politiker. Die Schülerinnen, die Küchendienst haben, servieren frittierte Bananen, frische Mango und Kokosreis.

Die Stuhlreihen im Hof haben sich gefüllt, ihr Neffe, der Politiker, betritt die Bühne. «Wer hundert Menschen dazu bringt, mich zu wählen, darf sein Kind kostenlos auf diese Schule schicken», ruft er ins Mikrofon. Das Publikum klatscht.

Je grösser die Schule wurde, desto mächtiger wurde Masriyah Amva. Nicht nur als Schulleiterin, auch als Islamgelehrte. Vor einem Jahr fand in der Schule der erste nationale Kongress für weibliche Islamgelehrte statt. Frauen mit und ohne Kopftuch aus dem ganzen Land reisten an, aber auch aus Pakistan, Malaysia, Saudiarabien und Afghanistan. Sie diskutierten über Polygamie, Kopftuchpflicht und Gender im Koran.

Gerahmte Fotos in ihrem Büro zeigen eine Reporterin des «Time Magazine», die in der Schule zu Besuch war, einen Bus mit Parlamentariern aus Pakistan, den berühmtesten Sänger Indonesiens und drei grimmig blickende Gelehrte aus dem Libanon in weissen Gewändern und mit langen Bärten. Masriyah Amva hat mehrere Bücher geschrieben, über Religion und Erziehung, ihre Memoiren, Gedichte. Berühmte Menschen und einfache Bürger, Atheisten und Fanatiker möchten sie treffen. Sie spricht mit allen, die das wünschen.

Inzwischen traut sich kaum noch einer, ihre Position als Islamgelehrte anzuzweifeln, und wenn doch, entgegnet sie: «Ich denke, Sie haben die Heilige Schrift nicht richtig gelesen. Schlagen Sie Sure 3 nach.» Früher dachte sie, der Feminismus sei etwas für Frauen aus dem Westen. Sie selbst sprach lieber von Frauenrechten. Inzwischen gibt sie Männern die Hand und bezeichnet sich als Feministin.

Ihr prominentester Fürsprecher heisst Haji Hussein Muhammad. Er ist eine Koryphäe unter den Islamgelehrten und der wichtigste Feminist des Landes. Er hält Vorträge, berät die Regierung, schreibt Bücher. Gerade ist er auf dem Weg nach Jakarta. Bei einem Zwischenhalt am Bahnhof von Cirebon erklärt er, warum er Masriyah Amva unterstützt. «Der beste Weg, den Islam zu reformieren, ist, die vorhandenen Traditionen und Institutionen zu nutzen», sagt er. Anfang der 1990er-Jahre beschäftigte ihn die Frage, warum im Namen des Islam, der doch Gerechtigkeit für alle propagiere, so viel Ungerechtigkeit gegenüber den Frauen herrscht. «Mir wurde klar: Die Rolle der Frauen zu verbessern, kann der Schlüssel zu allem anderen sein.»

Er sagt aber auch: «Der Westen macht uns Muslime für den Terrorismus verantwortlich. Das ist keine einfache Situation. Es löst bei vielen Gläubigen Wut und Ohnmacht aus.»

If I were you

Arina streift ihre Schuluniform über, schwarzes Kopftuch, blaues Hemd, schwarze Hose. Jeden Vormittag besucht sie die öffentliche Schule. Hier lernen die Schülerinnen und Schüler der Koranschule das weltliche Curriculum: Mathematik, Literatur, Physik, Biologie. Zu Fuss geht sie die 500 Meter, vorbei an den Reisfeldern und Imbissbuden zum Eingangstor im Dorfkern. Um acht Uhr beginnt der Unterricht. Sie sitzt in der Bank, teilt das Englischbuch mit ihrer Nachbarin. Der Lehrer schreibt an die Tafel: I would have asked first, if I were you. «Warum were?», fragt er in den Raum. «Conditional!» ruft Arina. «Which conditional?» – «Two!» Es ist noch früh am Morgen, aber schon über dreissig Grad heiss. Dem Lehrer läuft der Schweiss über die Stirn, in den hinteren Reihen ruhen die Köpfe auf den Pulten.

Nur wenige Kinder leben bei ihren Eltern. «Wir haben mehr und mehr Koranschulen in der Gegend», sagt eine Lehrerin der öffentlichen Schule. Die Region Cirebon ist das religiöse Zentrum der Insel Java, eine der vier Hauptinseln Indonesiens. Aber auch in anderen Gegenden haben die Koranschulen sich in den letzten Jahren stark vermehrt.

In den Augen der Lehrerin ist das keine gute Entwicklung: «Die Kinder kommen morgens völlig übermüdet hier an. Ihr Körper ist da, aber ihr Geist ist abwesend.» Zu unterrichten sei unter diesen Umständen schwierig. Arina hat in der letzten Nacht nur vier Stunden geschlafen, wie meistens. Manchmal macht sie tagsüber ein Nickerchen. Aber häufig ist die Moschee, ihre Schlafstätte, nachmittags besetzt. Zudem schallen ständig Lautsprecherdurchsagen über das Gelände.

Priorität Nummer zwei

Mittags kehren die Kinder zurück ins Internat. Ein paar Knaben sitzen vor dem kleinen Schulladen, der Seife und Süssigkeiten verkauft. Saeful ist dreizehn Jahre alt und erst seit einem halben Jahr hier. Er spricht leise und zaghaft, oft hat er Heimweh. «Besonders schlimm ist es, wenn ich krank bin», sagt er. Ein anderer Knabe erzählt, wie gross die Umstellung zu Beginn gewesen sei. «Plötzlich müssen wir alles, worum sich die Eltern gekümmert haben, selbst machen: Schulhefte kaufen, Wäsche waschen, Kleider bügeln.»

Während die Mädchen ihre Schulleiterin vergöttern, hat der kleine Saeful auch nach einem halben Jahr noch nicht verstanden, wer sein religiöses Oberhaupt ist. Er läuft einfach den Älteren hinterher. Ein anderer Junge beschwert sich: «Manchmal gibt die Rektorin Anweisungen, aber man merkt: Sie kennt unsere Situation überhaupt nicht. Kürzlich hat sie uns zum Baden an den Fluss geschickt, aber das Wasser ist ganz schlammig.» Es ist eine Erfahrung, die an den vielen männlich geführten Schulen die Mädchen machen: Priorität Nummer zwei zu sein.

In der Moschee bringt Arinas Freundin die Bambusrohre des Xylofons mit einem kleinen Schläger zum Schwingen. In langen Reihen sitzen die Mädchen vor ihr und lauschen. Es ist Céline Dions «My heart will go on», die Titelmelodie von «Titanic». Arina sitzt in der ersten Reihe, sie kennt den Film. Man kann ihn im Aufenthaltsraum ansehen.

Manche Eltern halten Tanzen und Musizieren für eine Zeitverschwendung. Dafür haben sie ihre Kinder nicht hierher geschickt. Andere finden es gar haram, sündhaft. Masriyah Amva hat schon viele Väter und Mütter in ihren Salon eingeladen und ihnen mit Autorität erklärt: «Der Prophet Mohammed sagt: Gott ist der Schönste, und er liebt die Schönheit. Musik und Tanz sind ein Ausdruck von Schönheit. Was also könnte daran falsch sein? Zudem öffnet die Kunst unsere Herzen, und das ist wichtig für ein religiöses Leben.»

Es ist Nachmittag, und die Rektorin zieht sich in ihr Schlafzimmer zurück. Sie streift ihr Gebetsgewand über, rollt den kleinen Teppich aus und sinkt auf die Knie. In die schöne Villa, die ihr Mann geplant und die sie fertig gebaut hat, ist sie nie eingezogen, ihre drei Töchter führen bereits eigene, kleinere Koranschulen. Während sie betet, sitzen ihre Schwester und die Schwägerin auf ihrem Bett. Die Schwester trägt Schwarz, sie hat kürzlich ihren Ehemann verloren. Masriyah Amva rollt den Gebetsteppich zusammen und sagt: «Du bist stark, du schaffst das.»

Die Bombe

Kürzlich hat der indonesische Geheimdienst die Stadt Cirebon zur Gefahrenzone erklärt. Erstens ziehe sie als religiöses Zentrum Radikale und Terroristen an. Zweitens mache die Transitlage zwischen der Hauptstadt Jakarta und Bandung sie attraktiv für Kriminelle. Die Bombe, mit der sich ein Selbstmordattentäter vergangenes Jahr in Jakarta in die Luft sprengte, war in Cirebon gebaut worden.

Der Islamgelehrte Faqihuddin Abdul Kodir verfolgt diese Entwicklung mit Sorge. «Wir haben grosse Angst vor dem Potenzial an Terroristen in unserer Region», sagt er am Rande einer Lehrerfortbildung. Abdul Kodir ist Dozent an der Universität Cirebon und Mitgründer der NGO Fahmina. Die Organisation setzt sich für eine religiöse Erziehung ein, die mit einem staatlichen Lehrplan vereinbar ist. So wie Klosterschulen in Europa.

«Als Indonesien noch eine holländische Kolonie war», sagt er, «war der Wunsch nach islamischer Macht eine Triebfeder des Widerstands.» Mit islamischer Macht meint er einen sogenannten Gottesstaat wie den Iran, wo alle Macht offiziell von Allah ausgeht.

Die Kolonialzeit liegt lange zurück. 1949 entliessen die Niederländer das Land nach einem vierjährigen Unabhängigkeitskrieg auf internationalen Druck in die Souveränität. 1999 wurde Indonesien, nach unruhigen Zeiten, einem Militärputsch und einer langen Diktatur, dann zur Demokratie. «Das heisst aber nicht», sagt Abdul Kodir, «dass der Wunsch nach islamischer Macht nicht mehr existiert. Aus meiner Sicht ist es dieser Wunsch, der die Menschen radikalisiert.»

Die grosse Muslimorganisation Nahdlatul Ulama, deren Mitglied Abdul Kodir ist, vertritt den Standpunkt, dass die Muslime in Indonesien alle Möglichkeiten haben. «Muslime können bei uns alles tun, was ihr Glauben erfordert. Sie können beten, fasten, auf Pilgerreise gehen», sagt Abdul Kodir. «Es gibt deshalb keinen Grund, einen Gottesstaat zu errichten.»

Es ist bittere Ironie: Die Einführung der Demokratie vor zwanzig Jahren hat den Bürgerinnen und Bürgern Indonesiens die Freiheit geschenkt, ihre Meinungen zu äussern und ihre Religion auszuüben. Aber manche nutzen diese Freiheit jetzt mit dem Ziel, die Demokratie wieder abzuschaffen. Kürzlich wollte ein radikaler Prediger eine Rede in Cirebon halten. Abdul Kodir hätte sie am liebsten verboten – vor manchen Gedanken würde er die Menschen gern schützen –, aber die Meinungsfreiheit gilt eben auch für Radikale.

«Die säkularen Politiker scheuen das Thema Radikalisierung», sagt Abdul Kodir, «weil sie Angst haben, Wählerstimmen zu verlieren. Wenn es Probleme mit radikalen Muslimen gibt, müssen immer wir moderaten Muslime uns darum kümmern.»

Koran als Lifestyle

Am frühen Abend vor der Koranschule. Eine Universitätsdozentin steigt aus einem Uber-Taxi. Sie ist gekommen, um eine Vorlesung zum Thema «Hate Speech» zu halten. Masriyah Amva hat sie eingeladen. Das Thema liegt der Dozentin am Herzen: In ihren Linguistikseminaren sitzen Studierende, die ihr Sorge bereiten. Eine junge Frau hat sich kürzlich einer Islamistengruppe angeschlossen. In langen Gesprächen versuchte die Dozentin sie davon abzubringen. Andere tragen plötzlich Kleider und Frisuren, als kämen sie aus Saudiarabien.

«Als ich klein war», sagt die Dozentin, die selbst in einer Koranschule aufgewachsen ist, seien Kopftuchträgerinnen wie sie eine Minderheit gewesen. «Heute tragen so gut wie alle Frauen Kopftuch.» Sie hält das für eine befremdliche Entwicklung, denn viele der jungen Frauen, die sich nun verhüllen – und der jungen Männer, die sich einen Bart wachsen lassen –, seien gar nicht religiös erzogen worden. Der Glaube hat in deren Kindheit kaum eine Rolle gespielt.

Nun entdecke diese Generation den Koran als Lifestyle – so wie Menschen im Westen das Onlineshopping oder die Fünf-Elemente-Küche. Frauen fänden es chic, ihre Markenturnschuhe mit einem bodenlangen, schwarzen Umhang zu kombinieren und sich einen Gesichtsschleier umzubinden. Männer krempeln ihre Hosenbeine über die Knöchel und schlagen die Stirn beim Beten so fest auf den Boden, dass sich mit der Zeit eine dunkle Verhornung bildet. Eine gute Muslimin, ein guter Muslim zu sein, damit lässt sich mittlerweile angeben.

Wem das religiöse Fundament fehlt, der bastelt sich seinen Glauben im Internet zusammen. Dort regieren bekanntlich jene, die am lautesten brüllen. Das sind nicht Menschen wie Abdul Kodir, sondern Hassprediger, grösstenteils aus arabischen Ländern. Die Schülerinnen und Schüler der Koranschule, hofft die Dozentin, kennen den Islam zu gut, um ihn mit einem Modetrend zu verwechseln. Die Religion gehört zu ihrem Leben wie Essen und Schlafen. Aber für den Fall, dass Einzelne doch radikalen Ideen verfallen, werden diese besonders gefährlich. Ihre Erziehung verschafft ihnen Autorität. Sie sind ideale Führer.

«Wie denkt ihr über die Krise in Burma?», fragt die Dozentin. Vor ihr sitzen vierzig Schülerinnen, die Beine überkreuzt. Masriyah Amva hat persönlich bestimmt, wer an diesem Seminar teilnehmen darf, es sind Mädchen, die bald die Schule verlassen werden. Smartphones sind hier verboten, noch haben die Schülerinnen und Schüler nur selten Zugang zum Internet. Wenn sie ihren Abschluss machen, wird sich das ändern.

Die meisten Kinder haben noch nie die Insel Java verlassen, schon gar nicht das Land. Was sie über die Welt ausserhalb der Schulmauern wissen, haben sie von ihren Eltern und Lehrern gelernt. Die Dozentin hat deshalb ein Thema gewählt, das seit Monaten die internationalen Nachrichten beherrscht: das brutale Vorgehen der burmesischen Regierung gegen die muslimische Minderheit.

Eine Schülerin antwortet: «Ich hasse die Burmesen, weil sie die Rohingya wie Untermenschen behandeln.» Der indonesische Staat war einer der ersten, der humanitäre Hilfe leistete. Viele im Land solidarisieren sich mit den Rohingya, weil sie auch Muslime sind. «Ihr müsst lernen, eure Gefühle zu filtern», sagt die Dozentin. «Wenn ihr aufgefordert werdet, jemanden zu lieben, ist das eine gute Sache. Wenn aber von euch verlangt wird, jemanden zu hassen, denkt zweimal darüber nach. Ihr kennt die Burmesen gar nicht – wie könnt ihr sie hassen?» Die Mädchen nicken.

Von der besten Seite

Wenn ein ausländischer Gast die Schule besucht, was oft der Fall ist, seit sie eine gewisse Bekanntheit erlangt hat, ruft Masriyah Amva ihre Schützlinge in der Moschee zusammen. Heute ist so ein Tag. Als der letzte Platz besetzt ist, schreitet sie zwischen Hunderten erwartungsvollen Kindern hindurch. Sie nimmt das Mikrofon und ruft: «Wir wollen uns der Welt von der besten Seite zeigen – findet ihr nicht auch?» Die Kinder lachen und johlen. Dann bittet sie den ausländischen Gast, ein paar Sätze zu sagen. Und auch wenn die Mädchen und Knaben die fremd klingenden Worte nicht verstehen – deren symbolische Bedeutung begreifen sie: Lasst uns offen sein für Neues.

Gegen elf Uhr abends legt Arina ihr Kissen auf den Kachelboden der Moschee. In vier Stunden werden die Lautsprecherdurchsagen sie wecken. Sie öffnet das Kopftuch, rollt sich zusammen und schliesst die Augen. Morgen ist Freitag, der unterrichtsfreie Tag, den sie nutzen will, um ihr Englisch zu verbessern. Vielleicht wird sie irgendwann nach Europa reisen. Und eines Tages in das Dorf ihrer Kindheit zurückkehren, wo sie – mit Allahs Hilfe – ihre eigene Koranschule eröffnen wird.

Ausgezeichnet mit dem real21 Medienpreis 2018.