Haben wir ein Recht auf Sex, Frau Professorin?

Erschienen in DAS MAGAZIN,  19. Februar 2022.

Ein Gespräch mit Amia Srinivasan, Shootingstar der zeitgenössischen Philosophie und Autorin eines aussergewöhnlichen Buches über sexuelle Machtverhältnisse.

Die Nachmittagssonne scheint auf die gefrorenen Wiesen Südenglands, als Amia Srinivasan den Videoanruf annimmt. Sie geht gerade mit ihrem Labradorwelpen laufen. Die erst siebenunddreissigjährige Philosophin hält an der Universität Oxford den ­Chichele-Lehrstuhl für Politik- und Gesellschaftstheorie, den vor ihr einige der grössten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts innehatten, unter anderen der britisch-russische Philosoph Isaiah Berlin.

Srinivasan hat indische Eltern, wurde in Bahrain geboren und ist in Taiwan, Singapur, New York und London aufgewachsen. Ihr Vater arbeitete als Banker, ihre Mutter als Tänzerin. In Yale, wo Srinivasan studierte, wollte sie sich lange nicht auf eine Disziplin festlegen – Geschichte, Politik, Englisch, Philosophie interessierten sie gleichermassen. Zur feministischen Theorie kam sie eher spät, nach einem Stipendium der Universität Oxford. Seit Januar 2020 hat sie nun den legendären Lehrstuhl inne – als jüngste Person, als erste Frau und als erste nicht-weisse Person.

Srinivasan hat eine helle Wollmütze in die Stirn gezogen und ist trotz der Kälte guter Laune. Ihr fu­rioses Debüt «Das Recht auf Sex. Feminismus im 21. Jahrhundert», eine Sammlung philosophischer Essays, ist soeben auf Deutsch erschienen, darüber wollen wir sprechen. Sie schliesst nun die Haustür auf, kurz darauf sitzt sie am Schreibtisch in einem ­dicken Wollpullover, hinter ihr ein gerahmter Druck vom Bauhaus in Weimar und eine Bücherwand.

Das Magazin: Ihre Essaysammlung heisst «Das Recht auf Sex». Ist dieser Titel eine Provokation? Denn das Recht existiert ja nicht, niemand hat ein Recht auf Sex.

Amia Srinivasan: Ja, ein bisschen ist es eine Provo­kation. Es hängt natürlich davon ab, was man unter dem Recht auf Sex versteht. Es gibt bestimmte Arten von Sex, auf die wir meiner Meinung nach ein Recht haben. Zum Beispiel haben wir alle das Recht oder sollten das Recht haben, auf Sex mit Partnern, die ­zustimmen. Das betrachten viele Menschen als selbstverständlich. Aber für bestimmte Gruppen von Menschen und an bestimmten Orten ist dieses Recht gefährdet, am offensichtlichsten für Schwule, Lesben und andere queere Menschen. Wir alle haben auch das Recht oder sollten das Recht haben, Sex mit uns selbst zu haben.

Aber die Vorstellung, die Sie im zentralen Essay des Buches diskutieren, ist ein vermeintliches Recht auf Sex – egal ob jemand mit mir Sex haben will oder nicht.

Richtig, dieses Recht ist ein Märchen. Ich glaube, dass viele Menschen zumindest implizit der Meinung sind, dass Männer, insbesondere Heteromänner, ein Recht auf Sex haben und dass Frauen die Gewährung dieses Rechts oft vereiteln. In seiner extremen Form kommt das in der sogenannten Incel-Szene zum Ausdruck, also bei Männern, die unfreiwillig im Zölibat leben – «Incel» steht für involuntary celibate – und deshalb eine frauenverachtende Weltsicht entwickelt haben. Aber ich denke, man sieht es auch in weniger extremer Form in eher vertrauten Interaktionen zwischen Männern und Frauen.

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