Ehrliche Haut

Erschienen in DAS MAGAZIN, 19. August 2017

Wem Tierhaltung am Herzen liegt, der kann Biofleisch kaufen – nicht aber Leder aus artgerechter Tierhaltung. Drei Zürcherinnen sind gerade dabei, das zu ändern.

Es ist noch dunkel, als Anna Vetsch in ihre Gummistiefel steigt und die Kapuze ihrer wasserfesten Jacke hochzieht. Die nassen Gräser peitschen gegen ihre Beine, der Regen schlägt ihr ins Gesicht. Sie stapft die steile Bergwiese hoch, immer hinter Gian Andri Rainolter her, dessen kräftige Gestalt mit Hut sich gegen den Nachthimmel abhebt. Rainolter ist Bauer, geboren und aufgewachsen hier im Unterengadin, er hat den Hof im Dorf Tschlin von seinem Vater geerbt, der von seinem Vater. Anna hingegen hat Politik studiert und ist am Vortag von Zürich angereist. Beide sind Anfang dreissig, beide in der Schweiz gross geworden, aber sie wären sich wohl nie begegnet – wäre da nicht das Leder.

Aus der Ferne ertönt helles Bimmeln. Anna steigt über Blaubeerbüsche und rutschige Steine. Der Regen hat nachgelassen, es dämmert. Und dann, hinter dem nächsten Bergrücken, endlich: Gian Andris Herde. Zwanzig Kühe, schwarz, rostbraun, sandfarben, manche mit kleinen Hörnern, andere mit weit abstehenden grasen mit ihren dreizehn Kälbern. Keine Hütte, kein Zaun, nur duftende Bergwiesen.

Herkunft: unbekannt

Die Frage, die Anna Vetsch sich vor zwei Jahren stellte: Wieso weiss eigentlich keiner, woher Leder stammt? Steak, Hackfleisch, Kalbsplätzli sind im Supermarkt gekennzeichnet mit Herkunftsland und Gütesiegeln. Viele Kunden zahlen bereitwillig mehr für Schweizer Biofleisch – damit Rinder so frei und glücklich leben wie jene von Gian Andri. Anders bei Leder: Zwar gibt es Bioleder, aber das heisst bislang nur, dass die Häute pflanzlich gegerbt wurden. Der Kunde hat keine Chance, bei Stiefeln oder einem Portemonnaie herauszufinden, ob das Tier, von dem die Haut stammt, nach hohen ethischen Standards gehalten und geschlachtet wurde. Erst dann kann man wirklich von Bioleder sprechen.

Gian Andri streckt die Hand nach seiner Lieblingskuh Bea aus. Sie macht zwei Schritte zur Seite und muht. «Die erkennt mich nicht», murmelt er, und es klingt ein wenig enttäuscht. Vor drei Wochen hat der Hirte, den Gian Andri dafür bezahlt, die Herde auf die Alp Pradguin getrieben. Gian Andri besucht seine Rinder heute zum ersten Mal in diesem Sommer, er will Anna das Kalb zeigen, das vor zwei Tagen zur Welt gekommen ist.

Gian Andris Kälber bleiben nach der Geburt bei ihren Müttern und trinken deren Milch, fressen später Gras und Heu. Keine wachstumsfördernden Zusatzstoffe, keine tierischen Eiweisse und Fette, kein gentechnisch verändertes Futter. Verkauft wird das Fleisch bei Coop als Natura-Beef. Es ist der höchste Standard in der Rinderhaltung. Zwölf Prozent des Schweizer Rindviehbestands werden so gehalten – ein kleiner Anteil, der aber stetig wächst.

Warum soll es nicht möglich sein, Lederprodukte herzustellen, die den gleichen ethischen Ansprüchen genügen? Anna, die als Projektleiterin für Nachhaltigkeit im Detailhandel arbeitet, begann zu recherchieren. Eine Modefirma, die eine Handtasche entwirft, geht üblicherweise mit dem Design zu einer Ledermanufaktur. Die Manufaktur prüft, welches Material sie für die Anfertigung der Tasche benötigt, und bestellt es bei einer Gerberei. Die Gerberei wiederum kauft Tierhäute von der Fleischindustrie, meistens in grossen Mengen und meistens aus der ganzen Welt.

«Was, wenn ich den umgekehrten Weg gehe?», dachte Anna. Wenn ich nicht mit dem Design beginne, sondern mit der Haut? Und so beschloss sie, die erste Firma zu gründen, die Lederprodukte aus deklarierter Herkunft herstellt – eine Art Bioknospe für Taschen, Gürtel, Schuhe. Dafür würde sie, die lange Vegetarierin war, mit Schweizer Schlachtbetrieben verhandeln, in italienischen Gerbereien ein und aus gehen und in ihrer Freizeit ein Modelabel für Handtaschen aufbauen.

Jeden Tag werden in der Schweiz rund 3500 Rinder geschlachtet. Im Sommer etwas weniger, weil auf den Grill traditionell eher Schweinefleisch gelegt wird. Wenn Weihnachten naht, etwas mehr, für den Kalbsschmorbraten und das Fondue bourguignonne. Von jedem Rind, das in der Schweiz geschlachtet wird, gelangen 35 Prozent als Fleisch in die Kühlregale der Supermärkte und Metzgereien; um alles andere – Haut, Knochen, Gehirn, Darm, Hufe – kümmert sich die Centravo, die zentrale Verkaufsorganisation der Schweizer Fleischwirtschaft. Sie wurde 1889 als Genossenschaft gegründet und arbeitet noch immer nicht gewinnorientiert.

«Wir verwerten alles», sagt Stephan Ochsner, der seit sechsundzwanzig Jahren für die Centravo arbeitet, seit neunzehn Jahren als Chef der Sektion «Häute und Felle». Bei Kälbern spricht man von Fell, bei Rindern (ab sechs Monaten) von Haut – den Grund dafür kennt nicht einmal Ochsner. Sein Arbeitsplatz ist eine gigantische Halle in Lyss am Jurasüdfuss, die man besser in Gummistiefeln betritt.

Köpfe, Füsse, halbe Schwänze

Die Luft ist feucht, sie riecht nach Salz und totem Tier. An der Decke quietschen Fleischerhaken. «Achtung», ruft Stephan Ochsner und springt zur Seite, als eine Rinderhaut vorbeisaust. Gekühlte Lastwagen der Centravo sammeln jeden Tag die frischen Häute in der ganzen Schweiz ein und bringen sie nach Lyss, wo sie bei fünf Grad gelagert und am nächsten Morgen gewogen, kontrolliert und konserviert werden – manche in Eis, die meisten in Salz. Auf der Schweiz-Karte der Centravo von 2016 markieren 641 rote Punkte alle Schlachthöfe, Metzgereien und die anderen Sammelstellen – die meisten in den nördlichen Kantonen, einzelne im Wallis, im Tessin und in Graubünden.

Berge von gesalzenen Häuten türmen sich in der Halle auf, eine Woche lang dürfen sie nicht berührt werden. Der Boden ist aus Stein, die Deckenbalken aus Holz, alle anderen Materialien würde das Salz angreifen. In Containern liegen Fettklumpen, Füsse, Köpfe, halbe Schwänze.

Vor zwei Jahren, bei ihrem ersten Besuch in Lyss, war Anna Vetsch ein bisschen mulmig zumute, aber sie wusste: Sollte Stephan Ochsner sie ernst nehmen, durfte sie keine Berührungsängste zeigen. Sie streifte den Arbeitskittel über, den Ochsner ihr aushändigte, und folgte ihm in die Halle. Sie ignorierte den strengen Geruch und verzog auch keine Miene, als die Arbeiter neben ihr mit grossen Messern Fett von den Fellen schnitten. Beim nächsten Besuch brachte sie ihre Kindheitsfreundin Nina Kunkel mit. Nina war Unternehmerin und bereits im Besitz einer GmbH. Die beiden Frauen erläuterten Ochsner ihren Businessplan, wiesen auf die bereits gegründete GmbH hin und strahlten dabei so viel Entschlossenheit aus wie möglich. Auf der Zugfahrt zurück nach Zürich bestellten Anna und Nina im Speisewagen zwei Gläser Prosecco: Sie hatten Stephan Ochsner, Herrn über alle Häute, als Komplizen gewonnen.

Schon vor Annas erstem Besuch in Lyss wurmte Ochsner, dass es keine echten Schweizer Lederprodukte gab – kein «Made in Switzerland» bei Schuhen, Gürteln, Taschen. Obwohl der Tierschutz strenger ist als überall sonst auf der Welt. Tiertransporte sind in der Schweiz, anders als in der Europäischen Union, gesetzlich auf sechs Stunden Fahrzeit begrenzt, es gelten Obergrenzen für Viehbestände.

Wenn eine Haut dunkle Streifen aufweist, weil das Rind in Gitter eingepfercht, nicht regelmässig von Mist und Urin gesäubert oder sogar geschlagen wurde, erhält der Bauer Abzug beim Preis. Gütesiegel wie Bio Suisse garantieren besonders hohe ethische Ansprüche. Ochsner hat Schlachthöfe rund um den Globus besichtigt, und er ist überzeugt: Nirgends wird so professionell gemetzgt wie in der Schweiz. Trotzdem hatte die Leder-Lieferkette immer einen Riss: Seit hierzulande die letzten Gerbereien ihre Tore geschlossen haben (bis auf einen Ein-Mann-Betrieb in Steffisburg), gehen alle Häute und Felle ins europäische Ausland – wo ihre Spur sich bislang verlor.

Kurz nach ihrem Besuch in Lyss stiegen Anna und Nina an einem Donnerstagnachmittag im August 2015 zusammen mit der Designerin Janine Wirth, die sie als Dritte ins Team geholt hatten, am Bahnhof Luzern in Stephan Ochsners Range Rover. Als das Auto nach gut fünf Stunden Fahrt Richtung Süden und mehreren Raucherpausen für Stephan Ochsner in das Industriegebiet Arzignano nahe der nordostitalienischen Stadt Vicenza einbog, rümpfte Anna die Nase.

Es roch nach Chrom – eine Chemikalie, die heute in 85 Prozent aller Gerbereien weltweit verwendet wird. Ein penetranter Geruch, chemisch, faulig. Anna hat viele Gerbereien besichtigt. Sie weiss, welche Schäden ein verantwortungsloser Einsatz von Chrom anrichten kann: verätzte Hände, verseuchte Flüsse.

In der Gerberei angekommen, übersetzte Stephan Ochsner, der als einziger Italienisch sprach, das Anliegen der drei Frauen: rein pflanzliche Gerbung, keine Chemie, keine Farbe. Die Handtasche sollte zu 100 Prozent nachhaltig sein – von der Haltung des Tiers biszum fertigen Produkt. Der Chef der Gerberei schaute verdutzt: «Das Leder soll nicht nur natürlich aussehen – es soll auch natürlich gegerbt sein?» Anna nickte. «Das macht hier niemand», erklärte der Gerber, «dafür müsst ihr in die Toskana.»

Gemeinsam assen sie zu Abend, der Gerber lud alle ein, es gab vier Gänge und jedes Mal Fleisch – eine Prüfung für die Frauen, die sonst möglichst fleischlos durchs Leben gehen. Die Reisegruppe schlief im Hotel und fuhr am nächsten Morgen weiter nach Florenz. Rückblickend wundern sich Anna, Nina und Janine manchmal, dass sie Herrn Ochsner noch immer siezen, nach allem, was sie gemeinsam erlebt haben. In Florenz telefonierte Ochsner viel, und irgendwann standen sie in Santa Croce sull’ Arno, einem der ältesten Gerberorte Europas, vor Luigi. Früher brauchte es zum Gerben vor allem Wasser und Baumrinde – beides gab es hier am Fluss Arno in der Provinz Pisa reichlich, deshalb siedelten die Gerber sich seit dem Mittelalter nach und nach in Santa Croce an. Heute stehen hier mehr als 400 Fabriken.

Luigi, der wegen seines langen weissen Barts auch «der Wikinger von Santa Croce» genannt wird, ist Chef eines kleinen Familienbetriebs. Er erhält Aufträge von Gucci, Yves Saint Laurent, Chanel, Ralph Lauren, er produziert Lackleder in Siebzigerjahre-Optik, Krokodil-Imitat, sogar Leder mit lila Haifischmuster, wenn die Kunden es wünschen, aber als Anna erklärte, was sie von ihm wollten – rein pflanzliche Gerbung, keine Chemikalien, keine Farbe –, da war er begeistert. «Ihr wollt Leder, so unbehandelt wie die Häute, die in meinem Büro von der Decke hängen? Kein Problem!»

Früher galten kleine Unregelmässigkeiten im Leder als Qualitätsmerkmal. Als Hinweis auf die Einzigartigkeit des Materials. Aber je stärker die Lederbranche sich industrialisierte, desto weniger optische Abweichung wurde von den Auftraggebern toleriert. Heute sollen alle Handtaschen in der Vitrine gleich aussehen, deshalb wird das Leder chemisch so behandelt, dass jeder Mückenstich, jede Dornennarbe, jeder Wachstumsstreifen verschwindet.

Das Leder darf nicht nachdunkeln. Es soll Flüssigkeiten abweisen. Es soll glänzen. Es soll eine Textur haben, farbig sein und von Beginn an weich. Für all das braucht es Chemikalien. Am Schluss ist die Haut überzogen von einer Schicht wie aus Plastik.Schon mehrmals musste Anna erklären, dass schwarze Handtaschen nicht aus schwarzen Kühen gemacht werden – jede Kuhhaut hat die gleiche Farbe, unabhängig vom Fell. Was viele Kundinnen auch nicht wissen: Rindsleder ist von Natur aus glatt. Hat die Handtasche eine Maserung, wurde diese mit einer Walze hineingestanzt – ein praktischer Weg, um kleine Macken zu kaschieren.

«Die Menschen verstehen nicht, dass das Tiere sind», sagt Luigi, «unsere Haut ist auch nicht perfekt.» Luigi gerbt mit Maroni, Mimose und der Rinde des Quebracho-Baums. Die genaue Mischung folgt einem Geheimrezept, das er wie jeder gute Gerber über die Jahre entwickelt hat. Tagelang drehen sich die Häute in riesigen Trommeln. Die rein pflanzliche Gerbung, wie Luigi sie anwendet, ist teurer und langwieriger als die Chromgerbung. Erst werden die Haare abgelöst, dann die Häute in den riesigen Trommeln haltbar gemacht und getrocknet. Dass Kunden wie Anna, Nina und Janine nicht einmal eine Imprägnierung wollten – geschweige denn Farbe oder andere Behandlungen–, passierte Luigi zum ersten Mal.

Nachdem die drei Frauen und Stephan Ochsner die richtige Gerberei gefunden hatten, war der Weg nicht mehr weit zu einer kleinen Manufaktur nahe Florenz, die sich bereit erklärte, die Taschen nach den Wünschen der Frauen zu fertigen. «Wie Veganer wohl auf das Projekt reagieren werden?», fragte Anna sich auf der Heimfahrt. Vor dem Fenster zogen grasende Kühe vorbei, die sie nun an Handtaschen denken liessen.

Das Kunstleder, auf das viele Veganer ausweichen, wird aus Erdöl hergestellt, eine endliche Ressource, die nicht abbaubar ist. Da findet Anna es nachhaltiger, Rinderhäute zu recyceln. Solange Menschen Fleisch essen, sind Tierhäute in ihren Augen Schlachtabfälle – auch wenn Stephan Ochsner das anders sieht und sie lieber «Nebenprodukte» nennt. Es gibt inzwischen erste Experimente mit pflanzlichen Lederimitaten wie Ananasfaser, die Anna aufmerksam verfolgt, aber noch kann niemand sagen, wie das in zehn Jahren aussehen wird.

Zurück in der Schweiz machten Anna, Nina und Janine sich an die Arbeit. Sie hatten beschlossen, hundert Häute zu sammeln. Diese Menge schien ihnen geeignet für ihre erste Kollektion. Und zwar nur Häute von Rindern, die so frei und glücklich leben wie jene auf der Alp Pradguin. Aus Mutterkuhhaltung und zertifiziert als Bio Suisse. Das Problem dabei: Der Bauer Gian Andri kennt das Alter seiner Rinder. Centravo-Chef Stephan Ochsner das Gewicht der Häute. Und der Gerber Luigi die Dicke des Leders. Aber keiner hatte je über den Zusammenhang nachgedacht. Denn bisher war niemand von der Kuh ausgegangen, sondern alle immer vom Handtaschendesign.

Es war ein Experiment zu schätzen, wie schwer die Haut eines zehn Monate alten Rinds – so alt sind die Tiere bei der Schlachtung – sein muss, damit das Leder nach der Gerbung die richtige Dicke hat. 2,2 bis 2,4 Millimeter braucht es für eine reissfeste und zugleich geschmeidige Tasche.

Aufgrund der BSE-Krise wurde in der Schweiz Mitte der 1990er-Jahre gesetzlich verordnet, dass alle Klauentiere zu kennzeichnen sind. Seither hat jedes Rind einen Knopf mit einem zwölfstelligen Code am Ohr. Weil das Ohr an der abgezogenen Haut bleibt, konnte Ochsner theoretisch schon länger jede Haut bis zum Hof zurückverfolgen. Nur hatte sich dafür bisher niemand interessiert. Ochsners Kunden sahen in den Häuten zwar eine qualitativ hochwertige Ware – aber deren Geschichte war ihnen egal.

Nun sprach Ochsner sich erstmals mit dem grössten Rinderschlachthof der Schweiz in Oensingen SO ab: Immer wenn die Schlachtung von Rindern aus Mutterkuhhaltung nach Bio-Suisse-Richtlinien anstand, rief ein Mitarbeiter bei der Centravo an und gab die Codes der jeweiligen Tiere durch. Wurden am nächsten Tag die Häute geliefert, nahmen Ochsners Mitarbeiter diese beiseite und konservierten sie separat.Nach zwei Wochen machten die drei Frauen eine Bestandsaufnahme: Im von ihnen geschätzten Idealgewicht von 25 bis 29 Kilogramm waren erst sieben Häute zusammengekommen. Also gingen sie das Risiko ein und erweiterten die Spanne auf 24 bis 30,5 Kilo pro Haut.

Ende November 2016 hatte Stephan Ochsner die geplanten hundert Häute für Anna, Nina und Janine eingesalzt. Eine Haut ist etwa 90 Franken wert, je nach Angebot und Nachfrage. Das hiess 9000 Franken Kosten, allein für das Rohmaterial. Stephan Ochsner schenkte den Frauen im Namen der Centravo siebzig Häute und stellte den Kontakt zum Bundesamt für Landwirtschaft her. Dort hatte man noch nie ein landwirtschaftliches Projekt unterstützt, bei dem es um etwas anderes als Lebensmittel ging. Aber der Plan der Frauen, unter dem Namen fin projects eine Handtaschenkollektion zu lancieren, um zu zeigen, dass echtes Schweizer Bioleder möglich ist, überzeugte, und die drei erhielten eine Anschubfinanzierung von rund 50 000 Franken. Zwar arbeiteten sie alle weiterhin gratis, aber nun konnten sie immerhin ihre Ausgaben decken.

Etwa zur gleichen Zeit, als Anna mit dem Bauern Gian Andri im Unterengadin durch den Regen stapft, kurvt Janine mit dem Auto ihrer Schwester durch die Rebberge von Chianti. Es ist morgens halb zehn, schon fast dreissig Grad, und die Designerin hat gleich einen Termin mit Alessandro, dem Chef der Ledermanufaktur, die die Taschen anfertigt. In Florenz waren alle Hotels wegen einer Modemesse ausgebucht, deshalb hat sie sich eine Ferienwohnung in den Hügeln südlich der Stadt gesucht.

Janine trägt ein Sommerkleid, im Radio läuft Italo-Pop. Nachdem sie sich für die Gerberei entschieden hatten, lag es nahe, auch die Handtaschen in dieser Region anfertigen zu lassen. Nirgends sonst in Europa ist das Wissen über Lederprodukte so gross wie in der Toskana.

Umsonst gestorben?

Wochenlang hat Janine in ihrer Wohnung in Winterthur gezeichnet, genäht, ausprobiert, war zu Freunden nach Bern gefahren, um deren Industrie-Nähmaschine zu benutzen. «Es war eine mega Überwindung, in das Leder reinzuschneiden», sagt sie. «Es ist ja ein totes Tier. Wenn ich etwas falsch mache, ist es vergebens gestorben.» Zu Hause hat sie jeden noch so winzigen Fetzen aufgehoben.

Janine hat als Designerin für die Zürcher Marken Qwstion und Viu Brillen gearbeitet, heute ist sie selbstständig. Es ist nicht das erste Mal, dass sie Lederhandtaschen entwirft, aber das erste Mal, dass sie nicht nur Entwürfe zeichnet, sondern so intensiv mit dem Material arbeitet. Anders als Stoff muss Leder gepresst, gehämmert, geklebt werden. Immerhin braucht es, einmal zugeschnitten, keinen Saum. Janine überarbeitete die Entwürfe wieder und wieder, sprach sich mit Anna und Nina ab. Übte mit Pappe. «Wir haben einen Mix gemacht: welche Ansprüche wir selbst an eine Tasche haben und was zeitlos ist.»

Janine kann stundenlang über die Details des Designs reden. Schon jetzt würde sie Kleinigkeiten wieder anders machen. Seit fünf Tagen wohnt sie in Chianti, und ein wenig fühlt es sich an wie Ferien. Eben hat sie einen Cappuccino unten im Dorf getrunken, am Wochenende hat sie auf der Terrasse die Bändeli zugeschnitten, um damit die Produktinformation am Henkel anzuknoten, rund um die Uhr chattet sie mit Anna und Nina, über Verpackungsmaterial, Fotos, die Gestaltung des Webshops.

«Buongiorno, Janine», sagt Alessandro in Scandicci, einem Vorort von Florenz, und hält ihr die Tür auf, wie einer alten Bekannten. Irgendwann merkte Janine, dass es einfacher war, die Einzelheiten direkt mit den Lederund Schnittmachern in Alessandros Manufaktur zu sprechen, als komplizierte technische Zeichnungen per E-Mail zu schicken. Welcher Faden ist ökologisch, aber auch nach Jahren noch stabil? Lässt sich die Tasche stülpen, ohne Falten zu werfen? Die Henkel: nähen oder kleben? Auch ohne gemeinsame Sprache fanden Janine Wirth und die weisshaarigen Italiener an ihren langen Arbeitstischen zwischen Lederrollen, Scheren, Zollstäben einen Weg, sich zu verständigen.

Alessandro führt Janine in den ersten Stock, und da hängen sie: hundertfünfzig verkaufsfertige Handtaschen, drei verschiedene Designs: eine kleine Brieftasche, eine schlichte Tragetasche mit Riemen und eine geräumige Einkaufstasche mit kurzen Henkeln.

Zwischen den pinken, grünen, gemusterten Taschen mit goldenen Verschlüssen und silbernen Ösen, die Alessandro für Escada und Porsche angefertigt hat, sehen die fin-Taschen ein wenig aus wie frisch geschorene Lämmer: schutzlos und nackt – hautfarben. Janine schaut besorgt: «Sollten wir das Fenster nicht besser schliessen?» Sonnenlicht lässt das Leder innerhalb von Minuten dunkeln. Alessandro zieht den Vorhang vor. «Ich habe eure Taschen nicht angefasst», sagt seine Mitarbeiterin. «Ich hab solche Angst – dabei habe ich nicht mal lange Fingernägel.» Die Oberfläche ist so empfindlich, dass bereits nach einem Tag Gebrauchsspuren sichtbar sein werden, das Material wird weicher und dunkler werden. «Die Tasche beginnt zu leben», sagt Janine.

Tasche mit dunklem Teint

Nina Kunkel, die dritte Gründerin, sitzt währenddessen in Zürich vor dem Volkshaus in der Sonne, vor ihr auf dem Tisch liegt eine Brieftasche. Die Tasche ist schon ein Jahr alt, es war einer von Janines ersten Versuchen. Nina hat die Tasche immer dabei, sie ist die Produkttesterin des Teams – als Unternehmerin und Mutter zweier Kinder trägt sie ständig ihren Computer, Kleider, Essen und anderen Kleinkram mit sich herum. Jede Tasche, die sie nutzt, hat nach wenigen Tagen Kratzer vom Schlüsselbund, Abdrücke vom Velokorb, Wasserund Fettflecken. Letzten Sommer sonnte sie sich in Barcelona am Strand, und abends war nicht nur sie selbst braun gebrannt: Auch die Handtasche war einige Nuancen dunkler. Nina war zufrieden, genau so sollte es sein. Leder, sagt man, ist das einzige Material, das mit dem Altern schöner wird – am schönsten nach etwa zehn Jahren.

Auf der Alp Pradguin oberhalb von Tschlin steigen Gian Andri und Anna im Morgengrauen über den Bergrücken und entdecken in einer Senke das neugeborene Kälbchen. Es steht ungelenk auf seinen Stelzen, flauschig und beige, daneben die Mutter. Als die Menschen sich nähern, setzt es in grossen Sprüngen davon. «Kein Wunder, dass die im Alter von zehn Monaten Teenies sind, wenn sie nach zwei Tagen schon so springen», sagt Anna.

Es hat wieder zu regnen begonnen, nach zwanzig Minuten Abstieg durch die Wiese lässt sie sich durchnässt auf die Rückbank von Gian Andris Jeep fallen, er lenkt den Wagen die schmale Bergstrasse hinunter Richtung Dorf. Es ist kurz nach neun, Martina, Gian Andris Frau, bereitet das Frühstück vor. Draussen blitzt und donnert es.

Während Annas Kleider im Tumbler trocknen, sitzen Gian Andri, Martina, die fünfjährige Tochter, und Anna in der Küche, essen Brot, Salziz und Käse. Anna zeigt der Bauernfamilie auf dem iPhone die fertige Handtaschenkollektion, professionell fotografiert mit Model in einem alten Schwimmbad. «Schau», sagt Martina zu ihrer Tochter, «die sind von unseren Kälbchen.»