Die Protokolle von Chelm

Sonderheft erschienen in DAS MAGAZIN, 26. März 2022

Das polnische Chełm, gelegen auf einem Hügel, auf dessen Kuppe eine barocke Basilika thront, war eine beschauliche Stadt von rund 65’000 Einwohnern, bis es am 24. Februar von der Weltpolitik überrollt wurde. Polen ist das erste Ziel für flüchtende Menschen aus der Ukraine, und sehr viele von ihnen landen hier in Chełm, nachdem sie den Grenzposten im nahen Dorohusk überquert haben, dem nördlichsten Übergang zwischen beiden Ländern.

Endlich in Polen, endlich in Sicherheit, fallen die einen erschöpft Verwandten oder Freunden in die Arme, andere warten stumm, was als Nächstes mit ihnen geschieht. Man kümmert sich gut um die Geflüchteten: Freiwillige verteilen Essen und Wasser, Ärztinnen geben Medikamente aus, und Grenzpolizisten von unerschütterlicher Freundlichkeit versuchen, das Verkehrschaos zu dirigieren.

Die Menschen, die hier ankommen, entsprechen nicht dem Bild von Geflüchteten, das viele in Westeuropa seit den Kriegen in Syrien und in Afghanistan im Kopf haben. Diesmal sind es keine jungen Männer, die fliehen. Es sind Frauen und Kinder. Mütter, Grossmütter, Babys, Kleinkinder, Teenager, Studentinnen. Elegante Frauen mit manikürten Fingernägeln und teuren Handtaschen. Sie haben Rollkoffer dabei, Kinderwagen und Haustiere.

Die Lähmung des Schocks liegt über allen, und jene, die schon in der Lage sind, ihre Gedanken zu sortieren, äussern nicht Erleichterung, sondern das schlechte Gewissen und die Trauer, ihr Land und ihre Familien im Stich gelassen zu haben. Bei manchen ist es erst wenige Minuten her, dass sie an der Grenze ihre Männer und Söhne umarmten und dabei nicht wussten, ob sie sie jemals wiedersehen werden.

Das Auffanglager in Chełm, in das viele der Flüchtenden gebracht werden, ist ein postsowjetisches Betonungetüm für Sportveranstaltungen. Dutzende Soldatinnen, Polizisten und Freiwillige in gelben Warnwesten versorgen hier die Geflüchteten mit Essen und einem Bett, vor allem aber mit dem, was sie am nötigsten haben: Trost und einer Perspektive.

Einer der Helfer ist Viktor, ein Ukrainer. Er ist neunzehn Jahre alt, macht in Chełm eine Ausbildung zum Piloten und trägt eine Fliegerjacke, an die er mit Klettverschluss die polnische und die ukrainische Fahne geheftet hat. Wenn sie ankommen, zeigt er seinen Landsleuten eine Karte von Polen und fragt, ob sie wissen, wo sie sind.

Die meisten, sagt er, sind nach der Odyssee durch die Ukraine in Bussen und Zügen völlig orientierungslos. Rund die Hälfte hat ein Ziel oder kennt sogar jemanden, der sie aufnehmen wird. Die anderen sind Gestrandete, die darauf warten, dass sie ein Bus an irgendeinen anderen Ort in Polen, nach Lettland, Deutschland oder Belgien bringt.

Die Hilfsbereitschaft der polnischen Bevölkerung ist gewaltig, jede Stunde kommen Einheimische in die Vorhalle des Aufnahmelagers, um Menschen, die sie nicht kennen, einen Platz in ihrer Wohnung anzubieten. Hinter der Empfangstheke stapeln sich die gespendeten Hilfsgüter, Babygläschen, Dosensuppen, Lesebrillen. In einer Ecke stehen fünfzehn gespendete Babyschalen, damit die vielen kleinen Kinder in Bus und Auto sicher weitertransportiert werden können.

An der Garderobe in der Eingangshalle gibt niemand mehr seine Jacke ab, dafür ist es hier zu kalt, draussen schneit es. Die freiwilligen Helfer verteilen Fertigsuppen und Kaffee, bieten Übersetzungshilfe an und rufen durch das Megafon die Ziele der Reisebusse: Berlin! Warschau! Norwegen!

Manche fahren gleich weiter, nachdem sie hier angekommen sind, andere lassen sich eine Schlafkoje in der grossen Halle mit den fünfhundert Feldbetten zuteilen. Draussen stehen die Minibusse mit laufendem Motor, jedes Mal bricht Hektik aus, wenn eine Destination ausgerufen wird.

Die meisten Geflüchteten werden in Polen bleiben, nahe der Heimat und in einem Land, das der Ukraine in vielem ähnelt. Andere möchten weit weg, aus Angst vor einer nuklearen Katastrophe oder davor, dass die Russen an der Westgrenze der Ukraine nicht haltmachen werden.

Wir haben, als der Krieg schon seit über einer Woche andauerte, während dreier Tagen mit vielen Geflüchteten ausführlich geredet und sie dabei vor allem danach gefragt, wie sie vor der Katastrophe lebten, welches Bild der Ukraine sie in sich tragen – und wen sie zurücklassen mussten.

Der kleinste gemeinsame Trost dieser Menschen ist das Wissen, dass dieser sinnlose Krieg irgendwann einmal vorbei sein wird. Das andere, was sie und alle Ukrainerinnen und Ukrainer teilen, sind die traumatischen Erlebnisse der Zerstörung, der grausamen Trennung von Brüdern, von Männern und von Müttern und die Erfahrung, dass ein ganzes Leben von einem Tag auf den anderen in Trümmern liegen kann.

Lesen Sie die ganze Geschichte bei DAS MAGAZIN.