Der Zapfenstreit

Er duftet, er glänzt – und er hat eine Vorgeschichte: Bevor alle Jahre wieder ein Weihnachtsbaum in unserem Wohnzimmer steht, klettern Zapfenpflücker in Georgien auf 50 Meter hohe Tannen, streiten sich Deutsche und Dänen im Kaukasus um das beste Saatgut

Nach einem langen Aufstieg durch Farne, Brombeerdickicht und kniehohes Gras stemmt Karl Moser seine klobigen Schuhe in den Waldboden und legt seine Arme um die schönste Tanne, die er je gesehen hat. Ein Traum von einem Baum. Pyramidenförmig, dichte Äste, buschige Nadeln. Nahezu vollkommen. So eine Tanne existiert kein zweites Mal. Weder hier in Georgien noch sonst wo. „Das ist die Granate, die wir brauchen!“, ruft Moser schnaufend.

Er kann den Stamm mit beiden Armen umfassen. „200 bis 300 Jahre alt, 30 Meter hoch“, schätzt Moser. Neben Moser steht ein Mann und nickt: sein Geschäftspartner Henning Pein. „Perfekte Weihnachtsbaum-Gene“, sagt Pein. Und das größte Glück: Die Baumkrone hängt voller rötlich schimmernder Zapfen, mit Zehntausenden winziger Tannenbaumsamen.

Fast 3000 Kilometer entfernt von ihrer Heimat stehen zwei Deutsche im August 2013 in einem Wald im Kaukasus und umarmen eine Tanne wie eine Chance, die es zu ergreifen gilt. Karl Moser und Henning Pein, beide Mitte fünfzig, Moser kahl, mit Stirnfalten, Pein mit rotblondem Haar. Zwei Handlungsreisende in Förstergrün, die sich in den tiefsten Osten Europas begeben haben, an den Anfang einer Geschichte, die jedes Jahr zu Weihnachten ihr Ende in den Wohnzimmern Westeuropas findet.

Vor zwei Tagen ist Moser morgens um halb sechs in seinen Passat gestiegen und die 50 Kilometer zum Stuttgarter Flughafen gefahren, vorbei am Spalier der Straßenlaternen, durch seine Heimatstadt Nagold mit ihren Brunnen, Parks und Fachwerkhäusern.

Gemeinsam mit Pein betreibt Moser die PlusBaum Samen GmbH. Sie sind die Zulieferer einer Zulieferindustrie: Sie verkaufen Samen an deutsche Baumschulen für alle Bäume, die in Wäldern, Parks und Gärten gepflanzt werden – Eiche, Buche, Douglasie, Weißtanne, Ahorn.

Am meisten Geld verdienen Moser und Pein mit den Samen der Nordmanntanne. „Sie ist der einzige Baum, den die Deutschen konsumieren wie ein Wegwerfprodukt“, hatte Moser im Auto gesagt. Jedes Jahr zu Weihnachten, 24 Millionen Mal. Was kaum ein Kunde weiß: Die Samen des Weihnachtsbaums wachsen dort, wo sich Europa in den Weiten Asiens verläuft. Deshalb diese Reise.

Im Transitbereich des Flughafens Istanbul-Atatürk hatte Moser Pein in der Menge gesichtet. Pein, dem auch eine Baumschule in Norddeutschland gehört, war in Hamburg ins Flugzeug gestiegen. Nun schlug ihm Moser auf die Schulter: „Dann woll’n wir mal.“ Sie tranken ein überteuertes Heineken und stiegen in eine Maschine in die georgische Hauptstadt Tbilissi.

Die schönsten Nordmanntannen wachsen im Kaukasus ab etwa 1.000 Meter Höhe, in der Region Ambrolauri, nahe der Grenze zu Russland. Die Bergrücken fallen zu einem Stausee ab, dem Schaori-See. Tagsüber spiegelt sich die Sonne auf dem Wasser, nachts der Mond. Aus den Tälern steigen Rauchsäulen. Die Menschen heizen ihre Häuser mit Holz, ihre Straßen sind aus nacktem Lehm. Armut und Idylle sehen sich in Ambrolauri zum Verwechseln ähnlich.

1841 hat der finnische Biologe Alexander von Nordmann hier eine Tannenart mit kräftigen Zweigen und tiefgrünen Nadeln entdeckt und sie Abies nordmanniana getauft. Lange interessierte dieser Fund nur Botaniker. Bis vor zwanzig, dreißig Jahren stellten die Deutschen an Weihnachten eher einheimische Blaufichten in ihre Wohnzimmer. Doch die Anspruchshaltung im Westen stieg: Weihnachtsbäume sollten tiefgrün leuchten und weder piksen noch nadeln.

Als im Osten der Kommunismus zusammenbrach, wurde der Blick auf die Nordmanntanne frei. Moser – wie Pein gelernter Gärtnermeister, dazu Außenhandelskaufmann – flog nach Georgien, vermaß Bäume, tüftelte Transportwege aus und wurde gemeinsam mit Pein zum größten deutschen Importeur für georgisches Saatgut.

Drei von vier in Deutschland verkauften Weihnachtsbäumen sind heute Nordmanntannen. Moser und Pein haben aus einer botanischen Rarität ein ökonomisches Massenprodukt gemacht.

Die Samen für neue Bäume ließen sich auch in Deutschland ernten, theoretisch. Aber es gibt hier kaum Nordmanntannen, man müsste sie erst anpflanzen. Und bis sie Zapfen tragen, dauert es Jahrzehnte. So lange wollen die Weihnachtsbaumproduzenten nicht warten. Also holen sie die Samen für die nächsten Tannen wieder aus Georgien.

Pro Jahr verkaufen Moser und Pein rund zwei Tonnen Samen aus dem Kaukasus an deutsche Baumschulen. Seit einiger Zeit aber stoßen sie auf Konkurrenz, wenn sie nach Ambrolauri kommen.

Früher waren Girci, Tannenzapfen, in Georgien so wertlos wie Laub. Sie fielen von den Bäumen und verfaulten. Seit in Europa die Nordmanntanne zum weihnachtlichen Sinnbild avancierte, ist aus den Zapfen ein wertvoller Rohstoff geworden. Sie sind Georgiens Gold. Und um Gold wird gekämpft.

Importeure wie Moser und Pein wollen die Zapfen haben. Aber auch die Einheimischen. Der Staat. Eine Mafia, angeführt von einem georgischen Maiglöckchenhändler. Und noch eine Mafia hinter der Mafia, von Russen geführt.

In den Wäldern von Ambrolauri ist schwer zu erkennen, wer gut und wer böse ist in diesem Kampf.

Am Flughafen Tbilissi wurden Moser und Pein von drei Georgiern empfangen, die so wenig Englisch sprachen wie Moser und Pein Georgisch. Die Verständigung beschränkte sich auf Händeschütteln und schiefes Lächeln, bis eine Dolmetscherin in den gemieteten Geländewagen zustieg.

Fünf Stunden dauerte die Fahrt über kurvige Bergstraßen nach Ambrolauri, es folgte eine Nacht auf harten Matratzen, Zähneputzen am Brunnen und nun der Aufstieg durch den Wald. „Wir sollten zusammenbleiben, ich habe hier schon mal die Orientierung verloren“, sagt Moser zu Pein.

Am Stamm des perfekten Weihnachtsbaumes hängt ein kleines Metallschild. Darauf steht mit schwarzer Farbe eine Zahl gekritzelt: 4.

Bei ihrem Besuch vor einem Jahr hatten Moser und Pein 33 Bäume markiert, die besonders schön gewachsen waren, deren Zapfen besonders gute Samen versprachen. An die Stämme hatten sie Schilder genagelt. Die meisten sind verschwunden. Moser massiert sich die Schläfen. „Jemand muss die Schilder abgerissen haben“, sagt er langsam.

Dabei ist das hier ihr Erntegebiet, offiziell verbrieft. In diesem Wald passieren seltsame Dinge.

Moser überlegt. „Besser, wir entfernen auch dieses Schild“, sagt er. „Wir sollten nicht unnötig auf unsere Prachttanne hinweisen.“

Ein nasser Sommer kann alles zunichtemachen

Bis heute ist Georgien für Moser und Pein ein Land voller Rätsel. Die verlassenen Städte, die schwarzen Fabrikruinen. „Ich frag mich, was die Menschen hier machen, ich sehe keine einzige Firma, die funktioniert“, flüsterte Moser im Geländewagen. Und Pein sagte, er wünsche sich von den Georgiern mehr Elan: „Es ist nicht genug, zu wissen, man muss auch anwenden. Es ist nicht genug, zu wollen, man muss auch tun. Das ist von Goethe.“

In vier Wochen, Ende September, soll die Ernte beginnen. Moser und Pein sind nach Ambrolauri gekommen, um die Zapfen zu prüfen, Erntemengen zu berechnen und Verträge mit vertrauenswürdigen Pflückern aufzusetzen. Die vergangenen beiden Jahre waren miserabel: Es gab wenige Zapfen, und die waren auch noch von Insekten zerfressen.

Die Abhängigkeit vom Wetter macht den Kampf um Georgiens Tannenzapfen unberechenbarer als den um andere Rohstoffe. Öl fließt, sobald die Quelle angebohrt ist, Diamanten vertrocknen nicht in wochenlanger Dürre. Doch selbst wenn ein Samensammler an alles gedacht, den besten Wald gefunden, eine Erntelizenz gekauft, Pflücker eingestellt hat – ein nasser Sommer kann alles zunichtemachen. Noch eine schlechte Ernte, und Moser und Pein können kein Saatgut mehr liefern. Dann fehlen in ein paar Jahren in Europa die Weihnachtsbäume.

Moser zückt sein Taschenmesser, legt einen unreifen Zapfen vor sich auf einen Baumstumpf und schneidet ihn der Länge nach auf. Die beiden Hälften kippen rechts und links der Klinge auseinander.

Moser hält die Luft an, dann atmet er langsam aus. Pein, der eine Ansammlung fremdartiger Pilze studiert hat, dreht sich um. „Das wird eine Wahnsinnsernte“, sagt Moser. Die Samen liegen gleichmäßig und unversehrt im Inneren des Zapfens. Hunderte kleiner Körner, nicht größer als Sonnenblumenkerne. In einem Monat, wenn kein Harz mehr aus den Zapfen tritt, werden sie reif sein. Dann müssen sie aus bis zu 50 Meter hohen Baumkronen gepflückt werden. Es muss schnell gehen – bevor die Zapfen sich öffnen und der Wind die Samen verteilt.

„So etwas habe ich seit Jahren nicht gesehen“, sagt Moser. Seine Stirnfalten haben sich geglättet.

In der Stube von Gia Momzemlidse ist der Tisch für das Abendessen gedeckt. Schüsseln und Teller, gefüllt mit Tomaten, Ziegenkäse, Huhn, Krautsalat, Bohnenbrot, gebackener Paprika, Pflaumensoße. Momzemlidse ist 38 Jahre alt, Vater von zwei Kindern und Förster, angestellt beim Ministerium für regionale Entwicklung und Infrastruktur, gesegnet mit dem Bauchansatz eines Bessergestellten. Im Herbst soll er als Chefpflücker für Moser und Pein arbeiten. Weil es in den Tälern um den Schaori-See keine Hotels gibt, übernachten die beiden Deutschen in seinem Haus.

Es ist nicht aus Holz wie die anderen im Dorf, sondern aus rotem Ziegel. Momzemlidse hat einen Internetanschluss und eine Toilette mit Spülung. Aber die Wände sind dünn, im Winter heult der Wind durch die Fensterritzen.

Momzemlidse hebt das Weinglas. „Auf die Freundschaft zwischen Deutschland und Georgien“, sagt er. Er trinkt das Glas in einem Zug aus, dreht es um, lässt den letzten Tropfen auf seinen Daumennagel rinnen und leckt ihn ab. „So macht man das bei uns, es muss völlig leer sein.“

Er stellt Moser ein randvolles Glas hin. Der mag nicht schon wieder trinken. Der süße Wein bekommt ihm nicht. Nach jeder Georgien-Reise schreibt er in sein Notizbuch: „zu viel gelabert“.

Aber was soll er machen? Es geht jetzt darum, sich gegenseitig Vertrauen anzutrinken.

Moser nimmt einen Schluck. Dann fängt er an, über die Arbeit zu sprechen. „Wir haben in Deutschland ein Problem“, sagt er. „Billiges Saatgut überschwemmt den Markt. Es steht Ambrolauri als Herkunftsort drauf, aber es muss illegal geerntet worden sein, sonst wäre es nicht so billig. Diese Mafiosi machen uns das Geschäft kaputt.“

Momzemlidse nickt und schweigt.

Moser und Pein haben von Jahr zu Jahr weniger Kundenanfragen. Immer mehr Konkurrenten bieten Samen aus Georgien an, immer weniger Baumschulen kaufen bei der PlusBaum Samen GmbH.

2009 hat das georgische Wirtschaftsministerium die 80.000 Hektar Wald um den Schaori-See aufgeteilt und Erntelizenzen versteigert. Moser und Pein haben eine fünfstellige Summe bezahlt, damit sie in ihrem Waldabschnitt zwölf Jahre lang jede Saison 17,5 Tonnen Zapfen ernten dürfen, aus denen sich ihre knapp zwei Tonnen Samen kratzen lassen.

Doch die Ordnung hat Risse bekommen. Einem skandinavischen Unternehmen wurde die Lizenz geschenkt, heißt es. Und die Regierung hat angefangen, für weitere Waldgebiete einjährige Zusatzlizenzen herauszugeben. Mehr Wald heißt: mehr Samen. Das macht den Preis kaputt.

Moser und Pein stellten auch fest, dass im Herbst während der Ernte oft gar nicht kontrolliert wird, wer eine Lizenz besitzt. „Das ist eine Riesensauerei“, schimpft Moser. „Unsere teure Lizenz ist für die Katz.“

Vor einigen Jahren wollten Unbekannte die beiden Deutschen erpressen: Sie verlangten Schutzgeld. Als Moser und Pein nicht zahlten, wurden ihre Pflücker von bewaffneten Männern überfallen. Danach trugen die Pflücker eine Zeit lang Maschinenpistolen bei sich. Wie Nebel liegt jetzt das Misstrauen über den Wäldern und Dörfern rund um den Schaori-See. Wer Freund ist und wer Feind, ist oft spät zu erkennen. Manchmal gar nicht.

Gia Momzemlidse arbeitet seit zehn Jahren für Moser und Pein. Er hält die beiden Deutschen für ein wenig steif. Sie trinken nicht und lassen die Samen jedes Jahr von einem Institut für Forstgenetik untersuchen. Aber sie haben auch ihre gute Seite. Sie zahlen pünktlich und meist mehr als die Konkurrenz.

Im vergangenen Jahr, als die Ernte schlecht war, versuchte ein Georgier im Auftrag des dänischen Großunternehmens Levinsen & Abies, Momzemlidses Pflückern die Zapfen für Moser und Pein zu einem noch höheren Preis abzukaufen. Momzemlidse verprügelte ihn. Seitdem gilt er als eine Art ständige Vertretung der PlusBaum Samen GmbH in Georgien.

Drei Tage lang bereiten Moser und Pein in Ambrolauri ihr Weihnachtsbaumgeschäft vor. Sie gehen mit Momzemlidse Wachteln schießen. Sie spähen mit einem Feldstecher die Zapfen im Waldabschnitt ihres dänischen Rivalen aus. Sie messen mithilfe eines elektronischen Chips, den sie voriges Jahr im Unterholz versteckt haben, die Temperatur im Wald, begutachten die Maschine, mit der die Samen aus den Zapfen getrennt werden, und müssen mit Momzemlidse dauernd einen trinken. Einmal flüstert Moser zu Pein: „Zum Glück sind die nicht in der EU.“

Es gibt neuerdings noch einen Konkurrenten, der Moser und Pein Ärger macht: Fair Trees, auch aus Dänemark. Die Marke wirbt damit, ihre Weihnachtsbäume seien fair gehandelt. Die Pflücker tragen Schutzhelme, ein Teil des Erlöses geht an die lokale Bevölkerung. Kommt gut an bei deutschen Käufern.

Moser und Pein haben sich eine Gegenstrategie überlegt: Bio-Bäume. Beim Frühstück am Tag ihrer Abreise legen sie Momzemlidse einen Arbeitsvertrag für alle seine 15 Pflücker vor. Ein ordentlicher, schriftlicher Kontrakt zwischen deutschen Auftraggebern und georgischen Pflückern ist erste Voraussetzung für eine Bio-Zertifizierung.

Auf dem DIN-A4-Papier stehen einige Verhaltensregeln für die Ernte: keine Steigeisen an die Füße schnallen, weil die den Stamm verletzen. Nie die ganze Baumkrone abernten. Keine Äste abbrechen. Und: Alle Arbeiter tragen Sicherheitsausrüstung.

„Warum steht das da?“, fragt Momzemlidse. „Einen Helm will ich nicht, der ist zu schwer. Und Schutzkleidung? So etwas besitzen wir nicht. Zu teuer. Das unterschreibe ich nicht.“

Moser zieht die Augenbraue hoch. „Helme bringen wirklich nichts“, sagt er. „Wenn man runterfällt, ist eh Ende.“

Momzemlidse rennt raus und kommt mit einer rot-blau geringelten Kindermütze wieder, die er sich tief in die Stirn zieht. „So etwas brauchen wir, damit das Harz die Haare nicht verklebt“, sagt er.

Mützen? Moser und Pein schauen sich an.

Helmverschlüsse, sagt Momzemlidse, verhakten sich dauernd in den Zweigen. Aber Mützen sind nicht bio. Tief im Kaukasus trifft europäische Ethik auf georgischen Pragmatismus. Es geht hin und her.

Irgendwann sagt Pein mit einem Seufzer: „So viel Streit dafür, dass der Weihnachtsbaum später Ruhe und Frieden verbreiten soll.“

Man weiß nie, wer von der Mafia bezahlt wird

Bevor er mit Pein zurück nach Tbilissi fährt, besucht Moser den Provinzgouverneur. Vielleicht kann er helfen, das Chaos im Wald einzudämmen. In Ambrolauri, der regionalen Hauptstadt, leben 2.400 Einwohner, acht von zehn Erwerbsfähigen hier haben keinen festen Job. Im Rathaus – außer der Polizeistation das einzige Gebäude im Ort, das nicht aussieht, als könne es jeden Augenblick einstürzen – sitzt der Gouverneur hinter einem dunklen Konferenztisch und schaut Moser an. In seinem Gesicht regt sich nichts. Im Regal stehen Spirituosen.

„Sie möchten etwas für die Bevölkerung tun?“, fragt der Gouverneur. „Gute Idee! Uns fehlt es an allem. Wenn Sie eine Straße bauen oder eine Schule sanieren, helfen wir gerne.“ Für Moser läuft das Gespräch in die falsche Richtung. Das liegt an Momzemlidse. Er hatte das Treffen vereinbart und Moser anvertraut: „Für einen Termin beim Gouverneur braucht man einen guten Grund. Ich habe gesagt, ihr wollt euch sozial engagieren.“

„Wir überlegen uns das“, sagt Moser zum Gouverneur. „Aber Sie müssen sich zuerst darum kümmern, dass nicht weiter illegal Saatgut geerntet wird. Das ruiniert uns das Geschäft.“

„Ein großes Problem!“, stimmt der Gouverneur zu, wirkt aber nicht besonders besorgt. Die Dolmetscherin hatte Moser empfohlen, keine Visitenkarte herauszugeben. Er solle sagen, er habe sie vergessen. Man wisse nie, wer alles von der Mafia bezahlt werde.

Moser und Pein reden wenig auf dem Rückflug nach Europa. Moser blättert im Nadel-Journal, dem Branchenmagazin. Pein liest in einem Buch namens Der Mönch, der seinen Ferrari verkaufte, eine Empfehlung seiner Yogalehrerin.

Anfang September, Moser und Pein sind seit zehn Tagen aus Georgien zurück, findet im sauerländischen Eslohe die Internationale Weihnachtsbaumbörse statt. Im Sauerland liegt das größte zusammenhängende Weihnachtsbaum-Anbaugebiet Europas, 11.000 Hektar groß. Hier werden aus Samen Bäume, wachsen Tannen und Profit. Als der Orkan Kyrill 2007 ganze Wälder fällte, nutzten die Baumproduzenten die Gelegenheit, um auf noch mehr Flächen kleine Nordmanntannen anzupflanzen.

Die Branche trifft sich in einer Schützenhalle außerhalb des Ortes. Hier hält am Wochenende nicht einmal ein Bus. 1.500 Besucher reisen an, aus Bayern, dem Schwarzwald, auch aus Dänemark, Besitzer von Baumschulen, Samenhändler, Weihnachtsbaumverkäufer. Maschinenbauer kommen mit Anhängern, auf die riesige Apparate zum Düngen, Fällen oder Verpacken von Weihnachtsbäumen geschnallt sind. Schweres Gerät, fast wie für einen Krieg. Es regnet. In der Halle gibt es belegte Brote.

Der Vorsitzende des Bundesverbandes der Weihnachtsbaumerzeuger hält eine Begrüßungsrede. „450 Millionen Euro stehen nicht für irgendwas, sondern für den Umsatz im Weihnachtsbaumgeschäft“, ruft er. „450 Millionen Euro stehen auch für Arbeitsplatzsicherheit. Das verstehen die da oben in der Politik langsam. Trotzdem bekommen wir Weihnachtsbaumproduzenten keine Subventionen wie andere Landwirte, wir kämpfen auf dem freien Markt.“

Moser nickt zustimmend. Um ihn herum sitzen Männer in Gummistiefeln, karierten Hemden und bunten Funktionsjacken. Männer, die wenig Worte machen. Man braucht gute Nerven, wenn es im November regnet, stürmt und schneit, die Maschinen im Matsch versinken oder einfrieren und 80 Millionen Deutsche trotzdem erwarten, dass der Baum pünktlich zu den Feiertagen in ihrem Wohnzimmer steht.

Moser tritt in den Regen hinaus. Er sieht den Messestand von Levinsen & Abies, dem Konkurrenten aus Dänemark, auf dessen Unterhändler Mosers Chefpflücker Momzemlidse im vergangenen Jahr wütend einschlug. Einer der Geschäftsführer sitzt unter dem Dach des Stands.

„Und, wie läuft es bei euch dieses Jahr?“, fragt Moser. Er schildert das Problem mit dem illegalen Saatgut. „Es wäre schön, wenn ihr da auch mal was unternehmen würdet“, sagt Moser.

Der Däne reagiert kaum. „Ja, das ist schon ein Problem“, sagt er dann. Die Schlägerei erwähnen beide mit keinem Wort. Was in Georgien passiert, bleibt in Georgien.

Mit dem Herbst kommt der Regen nach Ambrolauri. Im Haus des Chefpflückers Momzemlidse stapeln sich Etiketten, die bald auf prall gefüllten Säcken kleben sollen. Vor ein paar Tagen holten die Männer einen Zapfen vom Baum und pressten ihn mit den Händen zusammen. Es tropfte Harz heraus, für die Ernte ist es noch zu früh. Ab und zu ruft Moser an, dieser gewissenhafte Deutsche, und sagt, die Georgier sollten sich gedulden. Von Tag zu Tag würden die Samen besser. Also liegt Gia Momzemlidse im Wohnzimmer auf dem Sofa und schläft.

Auch sein Nachbar, 20 Jahre alt, wartet und spielt mit einem Cousin Backgammon. Jeden Herbst kommt er für die Zapfenernte hinauf in die Berge, um für Momzemlidse auf die Bäume zu klettern. Das übrige Jahr schuftet er in einer Kohlenmine. „Lieber würde ich das ganze Jahr über Zapfen pflücken“, sagt er. Aber die Erntezeit dauert nur zwei Wochen. Seine Frau trägt ein Baby auf dem Arm. Die Hälfte der 60 Familien im Dorf haben Zapfenpflücker im Haus. In den umliegenden Dörfern ist es dasselbe. Alle sitzen und warten und belauern den Nachbarn.

Wer zu früh pflückt, kommt mit unreifen Zapfen nach Hause. Aber wer zu spät in die Bäume steigt, verdient womöglich gar nichts – sogar in einem guten Jahr wie diesem. Weil dann schon die Schwarzpflücker in den Wäldern waren und ihre Beute illegal, am Zoll vorbei, nach Europa verkauft haben.

Die Manager von Fair Trees schätzen, dass mittlerweile 70 bis 90 Prozent der Nordmannsamen, die in den Westen kommen, illegal geerntet sind. Dass diese Hehlerware, zu früh gepflückt und schlecht gelagert, manchmal nichts taugt, wird in den Baumschulen erst ein paar Jahre später deutlich. Bis aus einem weit gereisten Samen ein Weihnachtsbaum wird, vergehen etwa acht Jahre.

Hinter Momzemlidses Haus stehen sieben Pflücker mit verschränkten Armen. Momzemlidse hat sie zusammengerufen. „Die Tannenzapfen sind für uns Milch, Honig und Brot“, sagt er. „Besser wäre natürlich, wenn direkt das Geld oben hinge.“ Die Männer lachen. Auf Anweisung der Deutschen soll Momzemlidse ihnen zeigen, wie man einen Klettergurt anzieht. Moser und Pein haben auch Öljacken und Gummihosen geschickt, Schutzkleidung. „Wenn die gut ist, ziehe ich die auch sonst an“, sagt einer.

Die Winter sind hart in Georgiens Bergen, die Temperaturen fallen weit unter null, die Brunnen frieren zu. Mit dem Schnee kommen Bären und Wölfe in die Dörfer, auf der Suche nach Nahrung.

Die meisten Menschen gehen dann ins Tal hinunter, in die Städte. Sie erzählen sich wilde Geschichten von Betrug, Verrat und unermesslichem Reichtum. In ihren Wäldern wachsen die Verschwörungstheorien mittlerweile schneller als die Bäume.

Ein reicher Jude, heißt es, habe 25 Dollar pro Kilo Zapfen bezahlt, bis er auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen sei. Und der russische Präsident Putin höchstpersönlich besitze einen Wald mit Nordmanntannen nördlich des Schwarzen Meeres.

Trotz der Gerüchte wissen viele Männer nach wie vor nicht, was mit den Zapfen geschieht, für die sie in die Bäume klettern. Daraus werde in einem fernen Land Parfüm hergestellt, vermuten manche. Von deutschen Weihnachtsbaumplantagen haben sie nie gehört. Weihnachtsbäume kauft in Georgien niemand, abgesehen von ein paar Reichen in Tbilissi.

Auch die Pflücker von Fair Trees warten, auf 1.800 Meter Höhe, mitten im Wald. Seit drei Tagen und zwei Nächten hoffen sie, dass der Regen aufhört. Er macht die Stämme glitschig und das Klettern noch gefährlicher. Die Chefs haben verboten, bei Regen zu klettern. Sie haben auch verboten, ohne Sicherheitsausrüstung in die Bäume zu steigen.

Schweigend hocken die Männer um ein kleines Feuer und rauchen. Ab und zu verschwindet einer mit der Axt im Wald und kommt mit ein paar feuchten Holzscheiten zurück. Mit einer Plastikplane und Ästen haben sie ein Dach über ihrer Schlafstätte gebaut, dort liegen Schlafsäcke und zwei Gewehre.

Bio, öko, fair gepflückt – der Regen von Ambrolauri verwäscht alle Labels. Mosers und Peins Pflücker unten im Dorf haben zwar keine Helme, warten aber im Warmen. Die Erntehelfer der sozial engagierten Dänen sind ausgerüstet wie Bergsteiger, hausen aber im Wald wie in einem Slum. Dafür gewährt Fair Trees den Kindern der Pflücker kostenlose Arztbesuche.

Er springt ab und greift nach der Spitze der Nachbartanne

Weiter unten ruckelt ein grauer Pick-up durch den Wald. Das hier ist offiziell das Erntegebiet der Dänen von Levinsen & Abies. Der Wald von Moser und Pein ist nicht weit. Drei kräftige Männer mit grimmigem Blick, dunklen Bärten und verdreckter Arbeitskleidung springen aus dem Auto. Dann ein dünner Junge, keine zwanzig Jahre alt. Es sind Schwarzpflücker.

Die vier Männer stammen aus dem Nachbardorf. Der Wald ist ihnen vertraut, sie sind hier aufgewachsen. Dieses Jahr soll der Schwarzmarktpreis hoch sein, haben sie gehört, zwei Lari pro Kilo Zapfen, umgerechnet 85 Cent. Sonst gab es manchmal nur 20 Cent.

In einer guten Baumkrone hängen bis zu 100 Kilo. Zwei Baumkronen bringen dieses Jahr also rund 170 Euro, das entspricht fast dem monatlichen Durchschnittseinkommen in Georgien.

Der Jüngste zieht sich eine harzverschmierte Wollmütze mit Augenschlitz über den Kopf, wie ein Bankräuber steht er im Wald. Er streift sich rote Handschuhe über und geht mit hochgezogenen Schultern und federndem Gang auf eine schmale Tanne zu. Seit er acht Jahre alt ist, steigt er in die Bäume.

Wie eine Katze zieht er sich am ersten Ast hoch, greift nach dem nächsten, immer dicht am Stamm. Er klettert schnell und still, immer höher, die Äste sind jetzt dünner als seine Handgelenke. Je höher er klettert, desto mehr schwankt der Baum.

Dann steht er oben in der Krone, die Baumspitze dicht neben seinem Gesicht. Mit einer Hand hält er sich am obersten Ast fest, der dünn ist wie ein Finger, dafür voll buschiger Nadeln. Mit der anderen Hand bricht er die Zapfen ab und wirft sie herunter. Durch die Äste rauschen sie bis auf den Waldboden.

Als keine Zapfen mehr in der Krone hängen, beugt er sich mit dem Oberkörper nach hinten wie ein Weitspringer beim Anlauf, schnellt dann nach vorne, sodass der Baum zu schwanken beginnt. Ein paar Mal schwingt er hin und her, dann springt er ab und greift nach der Spitze der Nachbartanne. So hat er sich einen Ab- und einen Aufstieg gespart.

Unten lehnt der Anführer der Gruppe an einem Baum. Sein Name sei Bekia Kemoklidse, sagt er. Er hat tiefe Augenringe, seine Lippe ist aufgeplatzt. „Manche von uns können zwölf Baumkronen hintereinander abernten“, sagt Kemoklidse, „ohne den Boden zu berühren.“

Einer seiner Komplizen sammelt die Zapfen auf. „Früher ist auch er in die Tannen gestiegen“, sagt Kemoklidse, „aber vor fünf Jahren hatte er einen Unfall.“ Er war den Stamm bis zur Hälfte hochgeklettert, da brach ein Ast. Ein gebrochener Arm, gebrochene Rippen, die sich in die Lunge bohrten. Wäre er von oben abgestürzt, wäre er jetzt tot.

Fast jedes Jahr stirbt ein Pflücker. Viele verletzen sich. „Ich würde trotzdem keinen Klettergurt anlegen“, sagt Kemoklidse. „Wenn man 30 Meter hoch- und 30 Meter runtersteigt, und das mehr als zehnmal am Tag, zählt jedes Gramm. Und wenn der Ast bricht, an dem das Seil hängt, schützt auch ein Gurt nicht.“

Zapfen fallen auf den Waldboden. Der Junge hat auch den zweiten Baum abgeerntet. Er hangelt sich von Ast zu Ast hinunter, nicht am Stamm entlang, sondern außen an den Zweigen, das geht schneller. Er rutscht ein Stück auf einem Zweig, greift nach dem nächstunteren, rutscht weiter, bis er unten auf dem Boden steht, heftig atmend.

Es dämmert. Die vier Männer machen ein Feuer, holen Wein in Plastikflaschen aus dem Auto, Wurst, Brot, Thunfisch aus der Dose. Sie stellen die Konserven an die Flamme, spießen Käse auf Holzspieße. Kemoklidse hebt das Glas. „Auf alle Menschen, egal, aus welchem Land sie kommen. Auf unsere Kinder, denn Kinder bedeuten Fortschritt.“ Die Männer stehen in der Dunkelheit, unbeeindruckt vom Regen, der ihre Pullover und Anoraks durchnässt.

Von dem System der Erntelizenzen haben die Schwarzpflücker gehört. Es stört sie nicht, dass Männer wie Moser und Pein sie Zapfendiebe nennen. „Mein Großvater, mein Urgroßvater und sein Vater haben diese Bäume gepflegt“, sagt Kemoklidse. Als Kinder haben sie in diesem Wald gespielt, warum sollten sie keine Zapfen pflücken? „Der Wald gehört den Menschen, die hier leben“, sagt Kemoklidse.

Es ist dunkel geworden. Vom Tal steigt Gebrumm herauf. Voll beladene Pick-ups rollen auf die Dörfer zu. Wer nicht direkt für eine Saatgutfirma arbeitet, wie die von Moser und Pein, muss seine Zapfen schnell anderswo loswerden. In den Gärten der umliegenden Weiler stapeln sich Säcke auf Holzgestellen, hinter vorgehaltener Hand werden Namen von Schleusern und Zwischenhändlern gezischelt.

Nur noch ein paar Wochen bis Weihnachten, in den deutschen Supermärkten liegen längst Lichterketten und Lametta. In den Wäldern von Ambrolauri ist vom Fest der Liebe nichts zu spüren: Der dänische Chef der Firma Levinsen & Abies wird von seinen eigenen Pflückern verprügelt, weil er nicht den Preis zahlen will, den sie ihm mit einem Streik abgerungen haben. Ein gutes Jahr ist manchmal schlecht – plötzlich sind da mehr Samen, als sich verkaufen lassen.

Auch Moser und Pein scheinen zu pokern: Sie richten Momzemlidse aus, mit der Ernte weiter zu warten. Es ist nicht mehr klar, ob es den Deutschen um die Reife der Zapfen geht. Oder ob sie auf fallende Preise spekulieren. Oder einfach nur ratlos sind.

Eines Nachts steigt Momzemlidse in seinen Jeep. Der Nebel liegt über dem Weihnachtsbaumwald wie in einem alten kaukasischen Märchen. Moser und Pein haben noch immer kein Signal zur Ernte gegeben. Die Scheinwerfer von Momzemlidses Wagen schneiden einen gelben Kegel in die Dunkelheit. Im Labyrinth der Bäume sieht er ein paar Gestalten. Sie füllen Tannenzapfen in große Säcke.

Das hier ist der Waldabschnitt der PlusBaum Samen GmbH. Aber es sind nicht Momzemlidses Pflücker.

Momzemlidse stößt einen Fluch aus.

Diese Reportage wurde mit dem Deutschen Reporterpreis 2014 in der Kategorie „Bester freier Reporter“ ausgezeichnet.