Der Schwarze Diamant

Erschienen in DAS MAGAZIN, 03. Mai 2014

Er ist jung. Er hetzt gegen Weisse. Und er will Präsident von Südafrika werden. Mandela ist tot – ist nun die Zeit von Julius Malema? Auf Wahlkampftour mit dem umstrittenen Politiker

Die Morgensonne scheint auf die Dächer Johannesburgs, auf den Highways schieben sich die Autos in Zeitlupe vorwärts, die Stadt erwacht zur Radioshow von Power 98.7 FM.

Der Moderator begrüsst seinen Gast: «Julius Malema, Sie haben eine neue Partei gegründet. Was ist Ihr Ziel?»

Der Mann mit dem runden Schädel und den Schlupflidern tippt während der Show gelangweilt auf seinem iPad herum. Sein Gesicht zeigt wenig Mimik, sein Alter ist schwer zu schätzen. Er hat heute ein Hemd und ein kariertes Jackett angezogen, fast sieht er aus wie ein ganz normaler Politiker, aber der Eindruck täuscht: Julius Malema ist ein Brandstifter. Und er ist hier, um Lunte zu legen.

2014 feiern die Südafrikanerinnen und Südafrikaner zwanzig Jahre Freiheit und Demokratie, das Ende der Apartheid. Aber das Wahlrecht zu besitzen reicht Malema nicht. «Wir werden dafür sorgen, dass die Schwarzen genauso viel besitzen und verdienen wie die Weissen», sagt er in seinem Township-Englisch, den Mund nah am Mikrofon. «Schluss mit der kolonialistischen weissen Unterdrückung!»

Noch mehr als nach Reichtum sehnt er sich nach: Rache. Nach Vergeltung für die Opfer der schwarzen Bevölkerung.

Im silbernen Mercedes S-Klasse wird Malema nach dem Ende der Radiosendung in den Stadtteil Braamfontein chauffiert, 78 De Korte Street, zum Hauptquartier seiner Partei, der Economic Freedom Fighters (EFF). Zwei Bodyguards sitzen mit im Auto. Nachdem er das erste Mal öffentlich Enteignungen forderte, bekam Malema Fanbriefe und Todesdrohungen.

Im dritten Stock des Hochhauses, Teppichboden, Neonlicht und Stühle aus schwarzem Kunstleder, sitzt eine junge Frau hinter dem Empfangstresen und telefoniert, Wahlkämpfer kommen herein, begrüssen sich mit Handschlag, die meisten in roten T-Shirts, mit roten Mützen, roten Umhängetaschen mit dem Schriftzug der Partei: EFF, schwarz auf rotem Grund. Male­ma, gefolgt von seinem Pressesprecher und den beiden Bodyguards, nickt ihnen zu und verschwindet Richtung Konferenzzimmer, zum nächsten Interviewtermin. Am 7. Mai sind Wahlen. Es könnte der erste Schritt auf seinem Weg zur Präsidentschaft sein. Malema hat noch 21 Tage Zeit.

In der Garage stapeln sich Plakate, die in den Rest des Landes transportiert werden müssen, in die anderen Provinzen. Die Slogans sind in Englisch verfasst, in Zulu, Xhosa, Afrikaans. Elf Amtssprachen hat Südafrika, Mandelas grosse Regenbogenfamilie. «Schluss mit der Korruption!» steht auf den Plakaten und «Gebt uns das gestohlene Land zurück!» Männer warten hier unten auf die Fahrer, in deren Lieferwagen sie die Plakate verladen werden.

Um sich die Zeit zu vertreiben, singen sie Kampflieder aus der Zeit der Apartheid, die sie für den Wahlkampf umdichten. «Macht Platz, Malema geht ins Parlament!» lautet der Refrain. Ihre tiefen, vollen Stimmen hallen von den Betonwänden wider. Das Durchschnittsalter liegt bei Mitte zwanzig – genau wie oben im Büro. Es ist die Partei der Jugend. Der enttäuschten schwarzen Jugend Südafrikas, und Julius Malema ist ihr Führer.

Aber wer ist dieser Mann, der für die einen das Böse und für die anderen das Gute verkörpert? Fünf bis zwölf Prozent der südafrikanischen Wähler werden ihm ihre Stimme geben, so lauten die offiziellen Prognosen. Für einen, dessen Partei es vor einem Jahr noch nicht mal gab, ist das ein unheimlicher Erfolg.

Julius Malema, genannt Juju, 33 Jahre alt, geboren in der südafrikanischen Provinz Limpopo, dreimal so gross wie die Schweiz, an der Grenze zu Zimbabwe, war Präsident der Jugendliga des Afrikanischen Nationalkongresses, ANC, der berühmten Mandela-Partei. Er wurde ausgeschlossen, nachdem er zum Sturz der Regierung von Botswana aufgerufen hatte, und gründete seine eigene Partei: die EFF. Das Parteiprogramm: Die Reichen, und damit vor allem die Weissen, sollen enteignet und Südafrika in einen sozialistischen Staat verwandelt werden. Endlich Gerechtigkeit für die schwarze Bevölkerung. Drei Viertel der Mitglieder der Jugendliga sind ihm in die neue Partei gefolgt. Die EFF hat schon mehr als 450 000 Mitglieder. Malema ist immer unterwegs, hält Reden, trifft Parteimitglieder, schüttelt Hände, spricht mit Journalisten. Es ist seine Zeit.

Und es sind Menschen wie Nicholas Mpho, die grosse Hoffnungen in ihn setzen. Dem 36-Jährigen fehlen die Schneidezähne, er ist klein und schmal, an der Stirn hat er eine Narbe. Mit einem roten Berret auf dem Kopf läuft er durch Block 91 von Alexandra, der ältesten Township Johannesburgs.

Geschätzte 700 000 Menschen leben hier in schiefen Buden aus Brettern und Wellblech – kein einziger Weisser. Bis vor fünf Jahren hat Nicholas als Taxifahrer gearbeitet. Aber als eine neue Zugstrecke für die Fussball-Weltmeisterschaft gebaut wurde, brach das Geschäft ein, er verlor den Job. Kämpferisch reckt er die rechte Faust in die Luft und ruft: «Amandla!» Männer auf der anderen Strassenseite antworten: «Awethu!» Die Macht – dem Volk! So wie Nelson Mandela es rief, als er 1963 den Gerichtssaal betrat, bereit, für die Rechte der Schwarzen zu sterben. Nicholas kämpft um Wählerstimmen für die EFF, er läuft durch Siedlungen, verteilt Prospekte, Malema for President, das ist seine Mission. Er klopft an eine Holztür, eigentlich ein rissiges Brett, eine schwangere Frau öffnet sie einen Spalt weit und schaut heraus. In den Townships finden seine Ideen Gehör. Die Menschen fühlen sich im Stich gelassen.

Mandelas Partei ANC, die in den 1990er-Jahren für die armen Schwarzen kämpfte, ist von einer revolutionären Bewegung zu einem trägen, sich selbst stabilisierenden Machtapparat verkommen, wie man jeden Tag in den Zeitungen lesen kann. Die Spitzenpolitiker machen nicht mit Reformen Schlagzeilen, sondern mit Korruptionsskandalen. Es wird über den Swimmingpool berichtet, den Staatspräsident Jacob Zuma sich von Steuergeldern hat bauen lassen, und über die Hochzeitsgäste von Geschäftsfreunden, deren Privatjet er auf dem Militärflughafen landen lässt.

Nicholas fragt die Frau: «Hast du dich für die Wahlen registriert?» Der Raum ist so klein, dass bloss ein Bett hineinpasst. Darin schlafen die Eltern, sie und ihr Ehemann legen sich nachts auf den Boden. «Ihr habt ja gar keine Privatsphäre», sagt Nicholas. «Wenn du die EFF wählst, werden dein Mann und du ein eigenes Haus bekommen und einen Garten, in dem du Gemüse anbauen kannst.» Die Schwangere nickt und hört zu. Nicholas hat als Wahlkämpfer endlich wieder eine Aufgabe gefunden.

Neben einer Toilette, die mehr als hundert Bewohner der Siedlung sich teilen, lebt ein 40-jähriger Mann, dünn, mit rasiertem Schädel. Er besitzt nur eine Matratze und ein paar Kleider, findet keine Arbeitsstelle. «Ich würde gern eine Familie gründen», sagt er. «Aber welche Frau heiratet einen Arbeitslosen?» Er schämt sich, in diesem Loch Besuch zu empfangen, wo es nach Urin riecht und das einzige Fenster mit Brettern vernagelt ist. Seit elf Jahren wohnt er schon auf diesen sechs Quadratmetern. Bisher hat er den Afrikanischen Nationalkongress gewählt. Aber genützt hat ihm das nicht. «Julius Malema gibt den Stummen eine Stimme», sagt der Mann. Deshalb wird er sein Kreuz diesmal bei den EFF machen.

Diejenigen, die nicht einmal in den Townships eine Unterkunft finden, leben in illegalen Siedlungen am Ufer des Jukskei-Flusses. Hier zünden die Menschen nachts Kerzen an, um etwas zu sehen. Niemand holt den Müll ab, deshalb kippen sie Essensreste und Plastikverpackungen die Böschung hinunter in den Fluss. Ratten kriechen durch die Ritzen und beissen den Babys in die Füsse. Wenn es regnet, wird der Fluss zu einem Strom, der die Hütten mit sich reisst und die Menschen verschlingt, die darin schlafen. Nur zwei Kilometer von hier liegt das Reichenviertel Sandton mit seinen «Armed Defense»-Warnungen an den Gartentoren und mit Restaurants, in denen Kellner französischen Rotwein dekantieren und die Speisen auf vorgewärmten Tellern servieren. Dort kochen, putzen und gärtnern die wenigen, die einen Job haben, für reiche, vor allem weisse Familien. Sie gehen zu Fuss zur Arbeit, von einer Welt in die andere, und abends wieder zurück.

Zwölf Prozent Schwarze mit Uni-Abschluss

Zwanzig Jahre nach dem Ende der Apartheid haben die Schwarzen zwar die gleichen politischen Rechte wie die Weissen. Aber wirtschaftlich sind die meisten von ihnen noch immer benachteiligt. Sie sind schlechter gebildet, verdienen und besitzen weniger. Es gibt zwar eine kleine schwarze Elite, die lebt wie die Weissen. Man nennt sie «Kokosnüsse», aussen schwarz, innen weiss. Doch es ist vor allem die Generation der heute 20- bis 30-Jährigen, die sich abgehängt fühlt. Unter der Regierung von Thabo Mbeki, dem Vorgänger Zumas, wurden 2007 Programme eingeführt, die Schwarze in der Wirtschaft mithilfe von Quotenregelungen unterstützen sollen. Aber vielen geht diese Strategie zu langsam und vielleicht auch zu wenig weit. Landesweit machen 65 Prozent der Weissen einen Universitätsabschluss, bei den Schwarzen sind es nur zwölf Prozent. Jeder vierte Schwarze ist arbeitslos, bei den Weissen ist es nicht einmal jeder Zehnte. Auch in der Landwirtschaft werden Schwarze zwar mit staatlichen Programmen unterstützt, aber sie besitzen kaum eigenes Land. Rund 80 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzflächen sind in weisser Hand. Die Unzufriedenheit der jungen schwarzen Südafrikaner wächst, die Hälfte der Wähler ist unter dreissig Jahre alt.

Es ist zwölf Uhr mittags, Malema hat nach der Radiosendung zwei weitere Interviews gegeben, jetzt sitzt er am ovalen Konferenztisch im Hauptquartier seiner Economic Freedom Fighters. Er hat noch nichts gegessen, so geht das seit Wochen, nachts schläft er nur wenige Stunden. Er starrt in ein silbernes MacBook, den Oberkörper gebeugt. «Es ist zu viel», sagt er. Der Wahlkampf strengt ihn an. Aber dieser ganze Rummel freut ihn auch. Mit der Hand streicht er sich über den rasierten Schädel. Wenn das alles vorbei ist, wird er Johannesburg für ein paar Tage verlassen, um wilde Tiere zu beobachten, Leoparden, Löwen, Elefanten – das Hobby, das westliche Touristen nach Südafrika lockt, er hat es erst kürzlich für sich entdeckt. Der berühmte Krüger-Nationalpark liegt in seiner Heimatprovinz. Er sagt: «In der Natur kann ich mich entspannen, da werde ich ruhig.»

Gleich startet der Social Media Chat. Die Fanpage der Partei hat schon mehr als 81 000 Likes. «Wie lautet der Hashtag?», fragt Malema den Pressesprecher, der einen Strohhut auf dem Kopf trägt und an der Steckdose herumruckelt. Die Führungsriege der EFF ist jung, urban und arbeitet ohne Lohn. Sie haben abgeschlossene Studien, manche sogar Doktortitel, andere haben Bücher veröffentlicht. Aber sie alle kennen das Leben in der Township; dort leben ihre Eltern, Cousins, Tanten, Freunde.

Sie sind die erste schwarze Generation, die Zugang zur Bildung hat. Auch Malema studiert im Fernstudium Politikwissenschaft an der Universität Johannesburg. Er nimmt zwischen einem jungen Mann in Trainingsjacke und einer Frau mit getönter Sonnenbrille Platz. Abwechselnd lesen die zwei Fragen vor, die die User auf Facebook und Twitter stellen. Malema ist der Chef, er diktiert die Antwort. Finger klicken auf der Tastatur.

«Commander-in-Chief, kann ich dir wirklich trauen mit meiner Stimme?»
«Absolut!»
«Was ist die Priorität, wenn Sie die Regierung übernehmen?»
«Die Konfiszierung des Landes ohne Kompensation und eine vollständige Neuverteilung.»
«Warum müssen wir die T-Shirts und Berrets bezahlen?»
«Weil wir sonst kein Geld haben, um unsere Politik zu finanzieren.»
«Wird Südafrika mit nichtdemokratischen Ländern in Afrika diplomatische Beziehungen pflegen?»

«Welches Land soll das sein? Es gibt keine nichtdemokratischen Länder in Afrika.»

«Wie meinen Sie das mit dem Genozid an den Weissen?», fragt ein User. Er spielt auf ein Lied an, das Malema mehrmals öffentlich gesungen hat. «Kill the Boer, the Farmer!» lautet der Refrain. Tötet den Buren, den weissen Bauern! Es war ein Tabubruch. Inzwischen wurde Malema per Gericht verboten, das Lied zu singen, wegen Anstiftung zum Genozid.

«Es wird keinen Genozid geben», antwortet Malema, der mittlerweile verstanden hat, dass er sich in der Rhetorik mässigen muss, will er Karriere machen. Der Aufruf zur Gewalt, selbst wenn er nicht wörtlich gemeint ist, passt nicht zu einem zukünftigen Präsidenten.

«Wie steht die Partei zu Genfood?», will ein User wissen, ein anderer, wie Malema mit den somalischen Einwanderern umgehen will. Und was ist mit dem Drogenhandel?

Malema beantwortet alle Fragen ganz ruhig, er verspricht höhere Löhne, schönere Wohnungen, mehr Geld für Kinder und Alte, hygienischere Krankenhäuser mit längeren Sprechstunden – alles, was die Wähler wünschen. Dann schaut er auf die Uhr. Es ist Zeit zu gehen. Wahlkampf ist immer auch der Versuch, überall zur selben Zeit zu sein.

Am Nachmittag hat Malema einen Termin mit MTV. Er trägt noch immer dasselbe weisse Hemd und das karierte Jackett vom Morgen. «Warum nicht zwischen Brüsten und Hintern mal eine politische Debatte zeigen», sagt ein Mitarbeiter des Jugendsenders, während er die Kameras verrückt und den Tontechnikern den Ablauf erklärt. In dem Fernsehformat treten die drei wichtigsten Spitzenkandidaten des Landes auf: der amtierende Präsident Jacob Zuma, die Spitzenkandidatin der Partei mit den meisten weissen Wählern, Helen Zille – und Julius Malema. Die Sendung wird in die Länder des ganzen Kontinents übertragen. Das Publikum von MTV ist das Publikum von Julius Malema. Ausserdem interessiert Malema für Housemusik. Er bezeichnet Little Louie Vega, den New Yorker DJ und Musikproduzenten, als guten Freund und erzählt gern, dass auch er DJ ist – aber nur privat. In den Nachtclubs von Johannesburg wird er zu schnell erkannt.

Aufzeichnungsort der Sendung ist der Rand Club im Zentrum von Johannesburg, ein ehemaliger exklusiver Verein für mächtige weisse Männer – Grossbauern, Industrielle, Bankenchefs und Minenbesitzer. Dieser Ort verkörpert alles, wogegen Malema kämpft. Er betritt die Höhle des Feindes durch eine schwere Eichentür und steigt auf roten Teppichstufen eine Freitreppe empor. «Ich bin nur ungern hier», murmelt er, während er in einem Polstersessel unter einem Kronleuchter sitzt und auf den Start der Sendung wartet. Inzwischen dürfen auch Schwarze und Frauen das Gebäude betreten. An der Einrichtung aber hat sich wenig geändert: Malema hat die meterlangen Vitrinen gesehen, in denen die Gewehre ausgestellt sind, mit denen weisse Polizisten bis vor zwanzig Jahren auf sein Volk geschossen haben. Hinter ihm hängt ein Ölgemälde, das eine junge Frau zeigt, die er nicht erkennt. Ein schwarzer Kellner bringt Limonade. Malema fragt ihn: «Wissen Sie zufällig, wer die Frau ist?» Der Kellner stutzt, lächelt und sagt: «Das ist Königin Elisabeth II.» Die letzte koloniale Königin Südafrikas. Malema schnaubt.

Auch Nelson Mandela hängt an der Wand, Friedensnobelpreisträger und Vater der multiethnischen Demokratie Südafrikas. Julius Malema bewundert ihn, aber aus anderen Gründen. «Mandela ist in die Schlacht gezogen, um zu schiessen und zu töten», sagt er. «Das ist unsere Inspiration.» Sich selbst bezeichnet Malema gern als schwarzen Rohdiamanten. Als radikalen Kämpfer, der durch seine politische Karriere im Laufe der Jahre zum Staatsmann geschliffen wird. «So ist es auch bei Nelson Mandela gewesen», sagt er. Tatsächlich gibt es Parallelen in den Biografien: Beide waren Präsidenten der Jugendliga des Afrikanischen Nationalkongresses, beide waren innerhalb ihrer Partei umstritten. Malema sieht Gewalt als letzte Alternative, um seine Ziele zu erreichen. Mandela hat vor seinem Gefängnisaufenthalt Sprengstoffattentate verübt.

Weisse Farmer im Visier

Hundert Kilometer südwestlich von Johannesburgs Rand Club, in dem sich die Kandidaten der Präsidentschaftswahl treffen, sitzt Bernadette Hall auf der Terrasse vor ihrem Wohnhaus, schaut auf ihre Maisfelder, ihre Schafherde und die in der Ferne grasenden Kühe. Die 46-Jährige mit den kurzen, rotblonden Haaren gehört zu den acht Prozent Weissen in Südafrika. Ihre Vorfahren stammen aus England, sie selbst ist hier geboren und hat immer hier gelebt. 200 Hektar besitzt sie, und dieses Land ist ihr Leben. «Es ist magisch, nicht wahr?», fragt sie, ohne den Blick vom Horizont zu wenden. So weit man sehen kann, kein Haus. Nur Wolken, Wiesen und Wälder. Bernadette Hall liebt diese Einsamkeit. Aber sie ist ihr zum Verhängnis geworden. «Am 20. Februar 2012 lag ich frühmorgens mit meinem Ehemann im Bett, wir lauschten dem Regen und machten Pläne für den Tag», erzählt sie. Dann standen sie gemeinsam auf, um die Kühe zu melken. Sie ging schon in die Scheune, ihr Mann stand noch davor, als sie einen Schuss hörte und ihn wenig später blutend am Boden entdeckte. Die vier schwarzen Angreifer bedrohten sie, forderten Geld und Waffen, fanden aber nichts. «Zwei lange Stunden kämpfte mein Mann um sein Leben, ohne dass ich ihm helfen konnte», sagt sie. Der nächste Nachbar war telefonisch nicht zu erreichen. Die Polizeistation zu weit weg.

Bernadette Hall ist überzeugt, dass der Mord auch rassistisch motiviert war. Später fand sie im Maisfeld neben dem Wohnhaus einen verwaisten Rastplatz. Die Eindringlinge hatten das Haus über Wochen hinweg beobachtet, bevor sie zuschlugen. Bis heute ist niemand für die Tat verurteilt worden. Denn bei der Gegenüberstellung konnte sie nicht sicher sagen, wer von den Männern geschossen hatte.

Was Bernadette Hall erlebt hat, ist kein Einzelfall. In den vergangenen zehn Jahren sind in Südafrika auf Farmen über 3000 Menschen, darunter auch schwarze Hausangestellte, von schwarzen Banden ermordet worden. «Und es werden immer mehr», sagt sie. Erst kürzlich wurden zwei Farmen in der Nachbarschaft überfallen, ein Besitzer wurde erschossen. Heute umgibt ein zwei Meter hoher elektrischer Zaun ihren Garten, das Metalltor hat gezackte Spitzen. «Aber hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht» sagt sie. An der Hauswand hängt ein Kreuz aus Messing.

«Viva Julius Malema, viva!» Es gibt in Südafrika spektakulärere Orte als diese Wiese am Rand der Kleinstadt Thaba Nchu in der Provinz Freistaat. Es gibt die urbanen Zentren mit den verspiegelten Hochhäusern, aber in den Townships und hier draussen gewinnt man Wahlen, davon ist Malemas Team überzeugt. Afrikanische Popmusik dröhnt aus grossen Lautsprechern am Rand dieses Festgeländes, junge Männer und Frauen werfen die Arme in die Luft, während einer mit dem Auto durch die Massen fährt und immer wieder in sein Megafon brüllt: «Viva Julius Malema, viva!» Die Tanzenden winken, die Älteren sitzen in roten EFF-Shirts auf Plastikstühlen, tragen rote Malema-Mützen, haben Umhängetaschen mit dem Aufdruck «Juju», seinem Kosenamen, und sie warten alle nur auf ihn.

Hier in Thaba Nchu hat die politische Karriere des Julius Malema ihre entscheidende Wende genommen. Es war 2008, der Präsident hiess Mbeki, als Malema, damals Vorsitzender der Jugendliga des Afrikanischen Nationalkongresses, verkündete: «Für Jacob Zuma werden wir töten!» Eine Provokation. Spätestens seit diesem Moment kennt ihn jeder in Südafrika. Zuma löste Mbeki ab, wurde Staatspräsident, Malema war sein Steigbügelhalter. Heute ist das Verhältnis der beiden zerrüttet. Mehr als die Weissen hasst Malema nur die Spitzenpolitiker der amtierenden Regierung. Weil sie den Weissen nichts entgegensetzen.

Es ist halb elf, auf der Wiese haben sich ein paar Hundert Menschen versammelt. Drei Polizeiautos und eine Ambulanz parken im Schatten. EFF-Wahlkämpfer laufen durch die Menge und notieren die Telefonnummern von allen, die noch kein EFF-T-Shirt tragen. Jedes Mitglied hat den Auftrag, zehn neue Mitglieder zu gewinnen. Jeder von ihnen soll dann wieder zehn neue Mitglieder akquirieren, es ist das Schneeballsystem, das Malema zu seinem Ziel führen soll. Plakate und Fernsehwerbung sind ihm nicht so wichtig, dann schon eher das Internet. Doch die Economic Freedom Fighters setzen vor allem auf Mundpropaganda. Und auf die Auftritte Julius Malemas, dort, wo potenzielle Wähler leben.

«Leute, kommt nach vorn», ruft ein Ordner den Schaulustigen hinter der Bühne zu, «wir können nicht zulassen, dass jemand im Rücken des künftigen Präsidenten Südafrikas steht.» Das Pfeifen, Kreischen, Trillern wird lauter. Da kommt eine hölzerne Pferdekutsche angeprescht, Malema auf dem Kutschbock, die perfekte Inszenierung für die ländliche Gegend. Hinter ihm rot gekleidete Fans, die Transparente hochhalten, mit Fahnen wedeln. Sie springen in die Luft, die Sitzfläche wippt, Malema schaukelt hin und her. Ein Knäuel Menschen umringt ihn. Alle strecken die Hände nach ihm, alle wollen ihn anfassen. Malemas Blick wandert über die Zuschauer, schätzt deren Zahl. Für diesen Auftritt hat er die Parteiuniform angezogen: Jeans, rotes Shirt, rotes Berret. Er wartet, bis die Ordner die Menge zurückgedrängt haben. Dann steht er auf, hebt das Kinn. «Die Weissen haben das Land von uns Schwarzen gestohlen. Lasst uns unsere Kinder aus der Armut befreien!»

Vier junge Männer Anfang zwanzig stehen an der Seite, nicken, sie sind arbeitslos, sie werden ihn wählen. Ein Aufstieg soll auch für Schwarze möglich sein, dafür steht Malema. Er ist ein Versprechen: Auch ihr könnt es schaffen.

Hoffen auf die Landreform

Julius Malema hat endlich Zeit für eine Pause auf dieser Wahlkampftour. Der silberne Mercedes SL 500, auf dessen Rückbank er sitzt, biegt auf den Parkplatz vor einem Einkaufszentrum ein, daneben ein Schnellimbiss. Eine Stunde hat er, um an etwas anderes zu denken als an das Wahlprogramm. Malema bestellt Schwarztee mit Zitrone und Honig. Er war neun Jahre alt, als Nelson Mandela aus dem Gefängnis entlassen wurde, und dreizehn, als Mandela zum ersten demokratischen Präsidenten Südafrikas gewählt wurde. Alt genug, um zu wissen, was das Apartheidsregime für die schwarze Bevölkerung bedeutete. «Die weissen Polizisten stiessen nachts unsere Tür auf, polterten herein, drehten die Betten herum, öffneten die Schränke, schubsten meine Mutter herum und betatschten sie», sagt er mit leiser Stimme. «Jungs in einem bestimmten Alter waren grundsätzlich verdächtig und wurden einfach eingesperrt. Zum Beispiel der Sohn unserer Nachbarn, er war unschuldig. Wenn die Weissen in die Townships kamen, suchten sie nach Jungs. Deshalb musste ich mich in Frauenkleidern ins Bett legen.»

Noch mehr als die Brutalität der Polizei hat ihn aber die Armut politisiert. «Wir hatten nichts zu essen, haben zu fünfzehnt in vier Zimmern gewohnt. Wir hatten keine Elektrizität, kein Wasser», sagt er. Die Mutter war Hausangestellte bei einer weissen Familie, den Vater hat er nie kennengelernt, aufgezogen hat ihn die Grossmutter. Mit neun Jahren wurde er von lokalen Widerstandskämpfern rekrutiert. Er lernte zu marschieren und Slogans zu singen. Mit zwölf lernte er, wie man mit einem Gewehr schiesst: «Von da an habe ich nie mehr zurückgeschaut.» Seine Mission stand fest: die Macht der Weissen zu brechen.

Die Geschichte Südafrikas ist eine Geschichte des Rassismus. Bei den Weissen wie bei den Schwarzen. Mandela war die grosse Integrationsfigur, ihm ist zu verdanken, dass die Feindbilder seit dem Ende der Apartheid auf beiden Seiten langsam verblassten.

Eine Weile sah es sogar so aus, als ob alle einander verzeihen könnten, als ob es möglich wäre, die Geschichte hinter sich zu lassen. Doch seit ein paar Jahren haben Populisten wieder Aufschwung. Menschen wie Malema, die die Unzufriedenen in der Bevölkerung, die Zurückgefallenen, mit ihren hetzerischen Parolen beeindrucken. Viele Beobachter sehen das mit Sorge.

«Wer denkt, dass die sozialen Probleme in unserem Land ethnische Gründe haben, hat einen naiven Blick auf die Politik», sagt Moletsi Mbeki, der Bruder des früheren Staatspräsidenten. Mbeki ist Medienunternehmer und verfolgt als politischer Analyst die Machtverschiebungen der Parteien. Der Afrikanische Nationalkongress, die Partei, die seit zwanzig Jahren ohne Unterbrechung das Land regiert, verliere zunehmend an Bedeutung. Sie erreiche viele Wähler nicht mehr. «Es ist das Verdienst der EFF, dass sie sich um die Armen kümmern», sagt Mbeki. «Aber Malema benötigt ein besseres Verständnis der wirtschaftlichen Zusammenhänge.»

Wenn Schwarze wütend werden

Das Abendlicht fällt auf das steinige, unfruchtbare Land des ehemaligen Homelands QwaQwa, auf dem die weisse Regierung die schwarzen Südafrikaner bis 1994 wie in einem Ghetto eingezäunt hatte. Noch immer leben die Menschen hier in kaputten Wellblechhütten zwischen herumliegendem Müll. Einen Job haben die wenigsten. Auf der Ladefläche eines Lastwagens steht Malema mit Sonnenbrille im roten Poloshirt und reckt den Zeigefinger in die Luft. Wieder so ein Auftritt. Wie so viele in den letzten Tagen. Doch seine Stimme ist lauter und aggressiver als zuvor. Vielleicht hat er Angst, dass ihm die Zeit wegläuft. Dass er nicht genug Stimmen macht. Dass man ihn vergisst. Vielleicht weiss er aber auch, dass die Menschen hier auf einen wie ihn gewartet haben. «Lasst uns die Gewalt nicht gegen uns Schwarze richten, sondern gegen unsere Feinde, die weissen, kapitalistischen Monopolisten», ruft er in die Menge. Die Zuhörer johlen. Malema macht eine Kunstpause, dann donnert er: «Wenn Schwarze wütend werden, kann keiner sie kontrollieren!»

Die Führungsriege der Economic Freedom Fighters steigt zu ihm auf die Ladefläche. In einer Reihe stampfen sie im Takt, als wollten sie den Regierungssitz stürmen. Malema fängt mit tiefer, knurrender Stimme an zu singen: «Kiss the Boer, the Farmer!» Seitdem ihm das Original verboten wurde und er nicht mehr «töten» sagen darf, singt er nun diese Version. Küsse den Feind. Er singt es so düster wie möglich, und die Menge fällt ein. «Kiss the Boer, the Farmer!» Sie hat Feuer gefangen.