Der Kaiser der neuen Kleider

Erschienen in DAS MAGAZIN, 02. Februar 2013

Mohammed Abdul Jabbar ist einer der mächtigsten Männer in Bangladesh. Denn er sorgt dafür, dass ein T-Shirt nur acht Franken kostet

Eigentlich hat Mohammed Abdul Jabbar sich vorgenommen, mittags nur noch Papaya, Gurkenscheibchen und Crackers zu essen. Die vielen Geschäftsessen machen sich bemerkbar, das Hemd spannt schon über dem Bauch. Im Dhaka Club ist es kühl und ruhig. Man sitzt in schweren Ledersesseln, das Licht ist gedimmt. Von den holzgetäfelten Wänden herab blicken die ehemaligen Präsidenten dieses exklusiven Clubs, golden gerahmt und zurückgehend bis in die britische Kolonialzeit.

Mohammed Abdul Jabbar, der Mann, der es möglich macht, dass Menschen auf der ganzen Welt sich morgens billige H&M-Shirts über die Köpfe streifen, ist sorgfältig rasiert und trägt einen dunklen Massanzug. Er winkt einen Kellner heran und bestellt Chicken Masala, Beef Masala, Okragemüse, Kartoffeln, Reis und Naanbrot. Das ist das Problem an den Geschäftsessen: Man kann schlecht als Einziger Diät halten. Im ersten Stock gibt es Billardtische und eine Bar, wo Alkohol ausgeschenkt wird, sonst schwer zu bekommen in diesem muslimischen Land.

Leider gibts keinen Cranberry Juice, seufzt Jabbar, den mag er so sehr, vor allem in Kombination mit eisgekühltem russischem Wodka. Wachposten in Militäruniform schützen die Mitglieder des Clubs vor der un­erfreulichen Realität jenseits des hohen Gittertors. Dort hupt, hungert, staubt und stinkt Dhaka vor sich hin, die Hauptstadt von Bangladesh.

Mohammed Abdul Jabbar lädt einen kleinen Löffel Chicken Masala auf seinen Teller. Er hat gute Laune, wie meistens.

Heute früh hat er seine Kinder zur Schule gebracht. Er geht in letzter Zeit auch öfter im Park spazieren. Die Zeiten, in denen er bis Mitternacht in seinen Fabriken war, um die Näherinnen zu überwachen, sind vorbei. Er ist mit seinen einundfünfzig Jahren an einem Punkt angelangt, wo es nur noch darum geht, über die Zukunft nachzudenken. Die Zukunft Bangladeshs, die Zukunft der globalen Textilindustrie und seine eigene. Praktischerweise fallen diese drei zusammen.

Das iPhone auf dem Tisch klingelt. Jabbar säubert seine Hände mit der Serviette und nimmt ab. Es ist der Direktor der EXIM Bank, einer der grössten Banken des Landes. Er ruft an wegen einer bankrotten Textilfabrik. Die Bank musste sie pfänden. Schlechtes Marketing, vermutet Jabbar. Möchten Sie sie nicht übernehmen?, fragt der Bankdirektor. Gern auch kostenlos.

Alle Geschäfte des Firmenkonglomerats DBL Group, das Jabbar und seine drei Brüder besitzen, entwickeln sich positiv. Und zwar in Form einer exponentiellen Kurve nach oben. Jabbar ist eine Erfolgsgarantie. Bleiben die offenen Rechnungen in Höhe von drei bis vier Millionen US-Dollar, die der ehemalige Fabrikbesitzer nicht mehr bezahlen konnte. Aber der Bankdirektor hat bereits angeboten, mindestens zwei Millionen davon zu begleichen.

Jabbar rechnet grundsätzlich in US-Dollar. In der einheimischen Währung bräuchte er zu viele Nullen.

Wichtiger als die Höhe der Kosten ist für Jabbar die Frage, ob die Maschinen modern genug sind. Denn die Designer von H&M in Stockholm schicken nur die Skizze eines T-Shirts oder einer Hose, alles Weitere übernehmen die dreiundzwanzig Fabriken der DBL Group: vom Import der Rohbaumwolle über das Spinnen des Garns, das Weben und Färben der Stoffe, das Nähen der Kleidungsstücke bis zum Verpacken der Ware, die dann zum Hafen transportiert, von dort in Containern verschifft und direkt in eine H&M-Filiale in Europa oder den USA geliefert. Drei Millionen H&M-Kleidungsstücke im Monat.

Jede kleine Panne kann zu Lieferengpässen führen. Wenn die Maschinen in der bankrotten Fabrik zu alt sind, macht die Übernahme für Jabbar keinen Sinn. Anderenfalls ist sie nur ein logischer Schritt in Richtung seiner «vision two zero two zero»: Im Jahr 2020 soll die DBL Group der grösste Kleiderproduzent der Welt sein.

Der Schokoladenkuchen im Dhaka Club ist besonders gut, und eigentlich würde Jabbar ihn zum Dessert gern bestellen, aber das verbietet er sich. Stattdessen trinkt er nur einen Kaffee, schwarz. Der Kellner bringt die Rechnung, Jabbar unterschreibt sie, wünscht den uniformierten Wachposten einen schönen Nachmittag und lässt sich von seinem Chauffeur ins Büro zurückfahren. Er wird mit seinem technischen Direktor die Firmenübernahme besprechen.

Die DBL Group produziert für Esprit, G-Star, Walmart, Puma, eine Zeit lang arbeitete sie auch für den Zara-Konzern, aber deren Zahlungen trafen zu spät ein, weshalb Jabbar und seine Brüder die Kooperation beendeten. Der grösste Kunde ist mit Abstand H&M. Meist kommuniziert die DBL Group mit David Savman, dem Bangladesh-Verantwortlichen von H&M. Savman könnte mit seinen blonden Haaren und den blauen Augen einem H&M-Werbeplakat entstiegen sein. Dhaka ist definitiv nicht sein Wunsch-Wohnort. Seit er hierher versetzt wurde, verbringt er möglichst viel Zeit im Nordic Club, einer weiteren Wohlfühlinsel für diejenigen, die es sich leisten können. Der Club verkauft ihm zumindest ein bisschen die Illusion, er lebe noch immer in Stockholm statt in einem der ärmsten Länder der Welt, wo Freizeit heisst, sich auf eine mit Müll bedeckte Wiese neben einer vierspurigen Strasse zu setzen. Aber H&M braucht einen Ansprechpartner in Dhaka, denn der Konzern hat zugesichert, sein Auftragsvolumen in den nächsten fünf Jahren zu verdoppeln. Savmans Anfragen an die DBL Group beginnen immer gleich: Habt ihr Interesse, in Zukunft Accessoires zu produzieren? Habt ihr Interesse, mit chinesischen Experten die ersten Schuhfabriken zu eröffnen? Habt ihr Interesse ..? Mohammed Abdul Jabbar mag diese Formulierung, sie klingt nach Kommunikation auf Augenhöhe.

Slums, Luxusclubs, Textilfabriken

Bangladesh und die Textilindustrie, das ist ein und dasselbe. Und wenn man in Bangladesh von Politik spricht, dann spricht man von Textilbaronen wie Jabbar. Das Büro seiner DBL Group befindet sich im modernsten Gebäude im Zentrum Dhakas, einem Hochhaus mit verspiegelter Fassade. Jabbar betritt die marmorne Eingangshalle und fährt mit dem Aufzug in den zwölften Stock. Durch das Panoramafenster sieht man hinunter auf die Slums entlang der stillgelegten Bahntrasse auf der anderen Stassenseite. Jabbar setzt sich an seinen Schreibtisch vor die vielen Pokale und gerahmten Urkunden, die ihn als vorbildlichen Unternehmer auszeichnen. Von hier blickt er über die ganze Stadt. Über sein Land, seine Fabriken, seine Arbeiter. Weiter oben sind nur noch die Büros von BGMEA, dem Dachverband der etwa fünftausend Bangladesher Textilfabriken. Jabbar ist natürlich Mitglied, und zwar eines der wichtigsten. Der Verband berät die Politik oder gestaltet sie gleich selbst. Fast alle Politiker haben Verbindungen in die Textilindustrie, viele besitzen selbst eine Fabrik.

Abends lässt Mohammed Abdul Jabbar, der auf seine Visitenkarte «M. A. Jabbar» hat drucken lassen – ein muslimischer Name könnte schlecht fürs Geschäft sein –, sich in seinem 7er-BMW zum American Club fahren. «Wenn ichs mir recht überlege, ist das mein Lieblingsclub», sagt er. Er ist auch Mitglied im Army Golf Club, im Banani Club und in einigen anderen elitären Vereinen, aber der Vorteil des American Club ist, dass hier fast nur Ausländer rumhängen und er daher nicht ständig erkannt wird. Er bestellt Wodka Cranberry. Von der Dachterrasse des Restaurants blickt man auf den clubeigenen Tennisplatz und den Pool hinab. Am Nachbartisch sitzen Amerikaner in Sportklamotten. Während Jabbar auf die Quesadilla wartet, beobachtet er das Match. Tennis in Dhaka ist wie Wasserski in der Wüste. Eine kleine Extravaganz für die winzige Elite dieser Stadt, die zu den am dichtesten besiedelten der Welt gehört: Auf der Fläche eines Tennisplatzes wohnen in den Slums mehr als fünfzig Menschen.

Kurz vor dem dritten Wodka Cranberry wird es dunkel auf der Terrasse, das Flutlicht über dem Tennisplatz erlischt. «Ich mag Drinks im Mondschein», sagt Jabbar und strahlt. Gegen die täglichen Stromausfälle kann man auch mit viel Geld nichts machen, und er sieht die Dinge grundsätzlich positiv.

Vor ein paar Monaten hat Jabbar Besuch bekommen. An einem Vormittag im September rollten fünf schwarze Limousinen mit abgedunkelten Scheiben auf das Gelände des Jinnat Complex, Vorzeigefabrik der DBL Group im Bezirk Gazipur. Die Sicherheitskräfte am Eingangstor salutierten. Es herrschten vierzig Grad im Schatten, und die Luft war klebrig feucht. Trotzdem wartete Jabbar bereits a vor dem verglasten Verwaltungsgebäude. Auch Jabbars Brüder und ein paar DBL-Manager warteten.

Aus dem Wagen stieg, gross, schlank, blond, Karl-Johan Persson, der Mann an der Spitze des globalen Modekonzerns Hennes & Mauritz. Er ging ein paar Schritte auf Jabbar zu, lächelte höflich und schüttelte ihm die Hand. Zum ersten Mal überhaupt trafen sich die beiden mächtigsten Männer hinter H&M. Gemeinsam sorgen sie dafür, dass jeden zweiten Tag irgendwo zwischen Kapstadt und Oslo eine neue Filiale eröffnet, in der hippe Designershirts nur acht Franken kosten. Persson als Chef der Filialen und Jabbar als Chef der Fabriken. Beide trugen polierte Lederschuhe, hatten den obersten Knopf ihres hellblauen Hemds geöffnet und schienen etwas nervös.

Der Konferenzraum war auf frostige Temperaturen heruntergekühlt, Cola- und Wasserflaschen standen in akkuraten Reihen auf dem grossen Tisch in der Mitte, und ein Beamer warf das Logo der DBL Group an die Wand. Der 37-jährige Persson war nicht allein angereist. Er hatte seine schwedischen Pressedamen Anna und Camilla mitgebracht, beide in hellen H&M-Blusen, und sieben Journalisten aus Japan und Europa.

Alle waren sehr kurzfristig eingeladen worden, erst zwei Tage vor Abflug. Warum, wollten Anna und Camilla nicht so recht beantworten. Klar wurde aber: Es war die erste Pressereise von H&M nach Bangladesh. Bis jetzt hatte der Konzern die Welt der Fabriken so gut wie möglich verschwiegen. Nun also sollten wir etwas über das «Made in Bangladesh»-Schildchen in unseren Jeans, Shirts, Pullovern erfahren.

Die Besichtigungstour führte zuerst in die Hallen, in denen das Garn gesponnen wird. «Ich habe mich schon lange darauf ge­freut, endlich mal hierherzukommen, aber mein Terminkalender war immer sehr voll», sagte Persson. Er trug das Jackett über dem angewinkelten Arm und musste lauter sprechen, um das Dröhnen der Maschinen zu übertönen. Jede Halle ist gross wie ein Fussballfeld, und Jabbars Manager zählten die Hersteller der riesigen Waschtrommeln, Färbe- und Druckmaschinen auf. «Alle aus Europa importiert», sagte Jabbar zu Persson, dem es offenbar zu heiss war. Ein Angestellter kam mit Getränken angerannt.

Jabbars Fabriken liegen so weit auseinander, dass man mit dem Auto von einer zur nächsten fahren muss. Dahinter steht die Absicht der DBL Group, Arbeiteraufstände leichter unter Kontrolle zu bringen. Ausserhalb der hohen weissen Mauern, haben Arbeiter sich aus Bambusstangen und Wellblech Hütten gebaut. So sparen sie das Geld für den Bus und können in der Mittagspause nach Hause gehen, um sich eine Portion Reis zu kochen.

Die Strassen sind nicht asphaltiert, und die Limousinen, in denen Persson und seine Entourage sassen, konnten wegen der vielen Schlaglöcher nur im Schritttempo fahren. Rechts und links bildeten sich Trauben barfüssiger Kinder, die an die Wagenfenster klopften. Als Persson vor der nächsten Fabrik ausstieg, wirkte er etwas erschöpft von dieser Überdosis Bangladesh.

Besonders stolz war Jabbar auf die Krankenstation und die Kinderbetreuung in seinen Fabriken. Die Babys der Arbeiterinnen lagen in einer Reihe auf bunten Matten, zwei Betreuerinnen sassen daneben. Das Unternehmen hat auch eine Moschee bauen lassen in den Slums in der Nähe der Fabrik. Jabbar war kurz zuvor auf einer Konferenz in Norwegen über soziale Verantwortung und weiss, worauf seine Kunden aus Europa Wert legen. «Heutzutage muss man moralisch sein», sagte er zu den Besuchern, und Persson nickte.

Absurd niedrige Löhne

Ein weiteres Vorzeigeprojekt war die neu gebaute Wasseraufbereitungsanlage der DBL Group. Sie reinigt das Wasser aus den Färbefabriken, bevor es in den nächsten Fluss geleitet wird. Das machen nur wenige Fabriken in Bangladesh. «Kann man das Wasser trinken?», wollte eine Journalistin wissen. Savman, der Bangladesh-Verantwortliche von H&M, der Persson nicht von der Seite wich, räusperte sich und sagte leise: «Also, ich wasche meine Haare immer mit Mineralwasser.»

In der Fabrik, in der die Kleider genäht werden, sitzen 1500 Arbeiterinnen auf einem Stockwerk. Je vierzehn Nähmaschinen stehen in einer Reihe, die erste Näherin beginnt mit einem Hosenbein, bei der letzten ist die Jeans fertig. Hundert bis hundertfünfzig Teile produziert eine Kolonne in der Stunde. Auf Wunsch eines schwedischen Boulevardfotografen stellte Persson sich in das Meer von Arbeiterinnen, die alle mit gelbem Kopftuch und einem Mundschutz an ihren Nähmaschinen sassen. «Etwas weiter nach rechts!», rief der Fotograf. Persson machte einen Schritt nach rechts, er berührte jetzt fast den Tisch einer Näherin. Das Rattern erfüllte den Raum. Die Situation schien Persson nicht sonderlich zu behagen, er wusste nicht so recht, wo hinschauen, war aber zu höflich, um das Shooting abzubrechen.

Die Näherin schob das nächste Stück Stoff unter den Nähfuss und trat das Pedal durch.

Letzte Station der Besichtigungstour war der Showroom im obersten Stock der Fabrik. Hier hängen die Vorzeigemodelle der Jeans, T-Shirts und Pullover, die man in einigen Wochen in den H&M-Filialen wird kaufen können. Der Boden ist aus Marmor, die Wände verspiegelt. Würde man nicht auf Palmen und Slums hinabblicken, könnte man auch in der Innenstadt von Zürich oder München sein. «Ich sehe Bangladesh wachsen», sagte Persson. Die Anfangsnervosität hatte er abgelegt. Er klang nun wieder, wie mächtige CEOs eben klingen, die ein Unternehmen führen mit einem Jahresumsatz von neunzehn Milliarden Dollar.

Am Tag zuvor habe er Sheikh Hasina, die Premierministerin von Bangladesh, getroffen, erzählte Persson den Journalisten, und sie gebeten, den Mindestlohn zu erhöhen. Wenn die Arbeiter unzufrieden sind mit ihrem Lohn, hat das auch Nachteile für H&M. Immer wieder führen gewalttätige Ausschreitungen in den Fabriken von Dhaka zu Lieferengpässen in den europäischen H&M-Filialen. «Aber wenn die Löhne steigen, dann kann es natürlich passieren, dass Einkäufer das Land verlassen», sagte Persson, lächelte höflich und schüttelte allen DBL-Managern die Hand. «Das ist ein sehr komplexes Thema, aber ich bin sicher, die Regierung wird eine Lösung finden.»

Zum Schluss durften die Journalisten noch kurz Fragen stellen, bevor Persson wieder zum Flughafen musste. Die Pressefrau Camilla sass neben ihm in der Sofaecke des klimatisierten Büros. Persson, Enkel des Firmengründers Erling Persson, Sohn der reichsten Familie Schwedens und verheiratet mit seiner Jugendliebe Leonie, sagte: «Unser Ziel sind noch stylishere Schnitte, noch bessere Qualität und ein noch besserer Preis.» Die Pressefrau präzisierte: «Also noch günstigere Preise in den H&M-Filialen.» Die achtundvierzig Stunden, die Persson für Bangladesh eingeplant hatte, waren um. Er kehrte zurück in seine Welt der Filialen und überliess die Welt der Fabriken wieder Jabbar.

Natürlich sehen nicht alle Fabriken in Dhaka aus wie Jabbars Vorzeigefabrik. Am 24. November 2012 brach bei Tazreen Fa­shions, einem anderen Textilhersteller, ein Feuer aus. Verschlossene Notausgänge, keine Feuerlöscher. Arbeiter, die in Panik aus dem Fenster sprangen, erstickten oder verbrannten. Mindestens hundertsiebzehn Tote. Eine menschliche Tragödie. Und ein unermesslicher Imageschaden. Natürlich gibt es auch Kinderarbeit und sexuelle Übergriffe und unbezahlte Überstunden in Dhaka. Hunderte von Entwicklungshelfern kämpfen Tag für Tag dagegen an. Aber wer in Bangladesh bei den Grossen mitspielen will, wie das Jabbar tut, der muss Skandalfreiheit garantieren können. Das ist genauso existenziell fürs Geschäft wie die absurd niedrigen Löhne.

Die dicken Kinder von Baridhara

Am Freitag schläft Mohammed Abdul Jabbar erst einmal aus. Dann zieht er sich ein kariertes Hemd und Freizeitjeans an. Jabbar wohnt mit seiner Familie in Baridhara, dem teuersten Viertel von Dhaka. Sein elfjähriger Sohn Amman spielt im Garten Kricket zwischen Palmen und Mangobäumen. Einer von Jabbars Fahrern wirft ihm den Ball zu. An das Grundstück grenzt das der türkischen Botschaft, die Strasse hinunter stehen die japanische und die chinesische Botschaft. Wachposten kontrollieren Tag und Nacht, wer in das Viertel hineinfährt, abends werden die Schranken heruntergelassen. Amerikanische Popmusik tönt von der American International School auf der anderen Strassenseite herüber, ursprünglich einer Schule für Kinder von US-Diplomaten, auch Jabbars Kinder gehen dorthin.

Eben findet ein Wohltätigkeitsbasar statt, Jabbars Töchter, vierzehn und siebzehn Jahre alt, sind schon dort. Der Eingang liegt auf der anderen Seite des Schulgeländes, daher haben sie sich die dreihundert Meter wie jeden Morgen in der klimatisierten Limousine fahren lassen. Dass man in einem Reichenviertel ist, erkennt man auch daran, dass hier die meisten Kinder dick sind.

In Rajabazar, einem der vielen Slums von Dhaka, rennen die Kinder mit nackten Füssen durch den Matsch. Die Bewohner bleiben stehen, wenn hier ein Fremder auftaucht, und sehen ihm verwundert nach. Innerhalb von Minuten hat sich die Neuigkeit bis in die hintersten Winkel der Siedlung herumgesprochen.

Die verschachtelten Hütten, notdürftig aus Wellblechplatten zusammengenagelt, sehen aus, als würden sie gleich zusammenklappen wie Kartenhäuser. Die Ritzen sind so breit, dass man einen Arm hindurchstrecken kann, die Gänge hingegen so schmal, dass man rechts und links mit den Schultern anstösst. Jeder kennt jeden.

Niemand hat hier ein Zimmer für sich. Auch nicht Fatema Begum, die gerade aus der Fabrik nach Hause gekommen ist. Sie ist neunzehn Jahre alt, hat ein Kindergesicht, ihr zierlicher Körper ist in ein buntes Tuch gehüllt. Sie arbeitet für die DBL Group. Einen Tisch oder Stühle besitzt Fatema nicht. Auch keine Küche. Blechtöpfe zum Kochen und ein paar Kleider hängen an Schnüren, die sie an der Decke entlang gespannt hat. Auf dem Boden steht ein kleiner Gaskocher, die Glühbirne an der Decke leuchtet nur schwach. Zwei bis drei Stunden am Tag hat Fatema Elektrizität. Um Wasser zu holen, läuft sie zum nächsten Brunnen. Das Plumpsklo teilt sie sich mit achtzehn anderen Bewohnern des Slums.

Mit Jabbars zufriedenem Lächeln hat Fatemas Leben nicht das Geringste zu tun. Sie arbeitet einen Monat lang hart für den Betrag, von dem Jabbar die ersten zwei Wodka Cranberry am Abend bezahlt. 3000 Taka im Monat, umgerechnet etwa dreissig Dollar, der gesetzlich vorgeschriebene Mindestlohn. Die Miete für ihren winzigen Wellblechverschlag im Slum kostet schon siebzehn Dollar, mehr als die Hälfte ihres Lohns.

Auch im Stadtteil Baridhara, wo Jabbars Villa steht, war sie noch nie. Sie kennt nur diesen Slum, die DBL-Fabrik und die H&M-Etiketten, die sie täglich annäht. Wenn Fatema abends aus der Fabrik kommt, kocht sie und geht zu Bett, am nächsten Morgen steht sie früh wieder auf, Freizeit kennt sie nicht.

Und dennoch wäre es zu einfach, Fatema nur als Opfer und globale Textilunternehmen als Ausbeuter zu betrachten, so einfach ist das nicht. Ginge es Näherinnen wie Fatema wirklich besser, wenn die Menschen in Europa und den USA auf Billigmode verzichten ? Vor allem Fatema selbst sieht das anders. Sie ist froh über ihren Job. «Fabrikarbeit ist hart», sagt sie, «das ist nun einmal so.» Ohne die Textilindustrie würde sie noch immer mit ihren Eltern zwischen den Reisfeldern ausserhalb Dhakas leben und deren Haushalt führen. Nun wohnt sie immerhin mit ihrem Mann zusammen in der Stadt und verdient eigenes Geld, auch wenn es lächerlich wenig ist.

Warum nicht Burma?

Amman, Jabbars Sohn, hat keine Lust mehr, Kricket zu spielen. Mit seinem Vater geht er hoch auf die Dachterrasse. Von hier oben kann man die Hüpfburg auf dem Fussballfeld der American International School sehen. Jabbar nimmt den Hörer des Haustelefons ab und bestellt in der Küche ein paar Snacks: Wasser und Mandarinen für ihn, Coca-Cola, frittierte Fleischbällchen und Kuchen mit farbigem Zuckerguss für Amman – dabei würde auch Amman etwas Diät guttun. Bald haben die Kinder Ferien, dann wird die ganze Familie nach Australien fliegen.

Letztes Jahr haben sie eine dreiwöchige Reise durch Europa gemacht. In Zürich haben sie im Park Hyatt gewohnt, und in Engelberg sind sie auf den Titlis gefahren. Jabbars Lieblingsort ist Interlaken. «Wegen des Bergpanoramas», sagt Jabbar. Er war auf diesen Reisen auch immer wieder beeindruckt von der Infra­struktur.

«Wie schnell man beispielsweise mit dem Zug von Paris nach Frankfurt kommt, unglaublich. In Dhaka steht man genauso lange im Stau, nur um von zu Hause bis zum Jinnat Complex zu gelangen.» Ein andermal waren sie in Kanada unterwegs, in Vancouver und Victoria. «Ich mag das Hotel Victoria!», ruft Amman aus seinem Liegestuhl. «Amman, wir sprechen über ein anderes Victoria», sagt Jabbar. «Nicht das Hotel Victoria in Interlaken, sondern die Stadt Victoria in Kanada.»

Wenn Jabbar an die zweieinhalb Stunden zurückdenkt, die er mit Persson gemeinsam verbrachte, erinnert er sich vor allem daran, was für ein gut angezogener, perfekter Gentleman Persson sei. Dessen Bitte an die Premierministerin, die Löhne zu erhöhen, hat er gar nicht so richtig mitgekriegt. Oder sie ist ihm entfallen, da sie keinerlei Folgen hatte.

Jabbar weiss natürlich, dass höhere Löhne auch für sein Image gut wären. Deshalb hat er prinzipiell nichts dagegen. «Wie hoch ist der Mindestlohn noch gleich?», fragt er. Er hats vergessen. Genau, dreissig Dollar im Monat.

«Fünfzig Dollar fände ich angemessen.»

Aber was Jabbar sich freitags auf seiner Dachterrasse überlegt, während er eine Mandarine schält, hat genauso wenig Folgen wie die Bitte Perssons an die Premierministerin.

Denn fürs Rechnen ist bei der DBL Group ein anderer zu­stän­dig: Mohammed Zahidullah, General Manager Corporate des Unternehmens. Die viele Freizeit Jabbars muss er sich erst noch erarbeiten. Besucher empfängt er am gläsernen Konferenztisch in seinem Büro im Hauptsitz der DBL Group, ein paar Türen von Jabbars Büro entfernt.

Zahidullah hat in Indien Betriebswirtschaft studiert und gehört zu den Kaderkräften, die Jabbar gezielt angeworben hat. Er trägt einen dunklen Anzug, eine randlose Brille und spricht akzentfreies Englisch. «Coffee or tea?», fragt er zur Begrüssung.

Höhere Löhne einfach so, das ist für ihn kein Thema. Denn die billigen Arbeitskräfte sind das Erfolgsrezept von Bangladesh und das Erfolgsrezept der DBL Group, und er wird dafür sorgen, dass das auch so bleibt. Inzwischen lassen sogar die Chinesen hier produzieren. Günstiger ist es nur in Afrika, aber da fehlen die Infrastruktur und die Arbeitsmoral.

Zahidullahs Handbewegungen machen deutlich, dass es sich bei Mindestlohn und Produktivität um zwei Dinge handelt, die nur parallel ansteigen können. Wenn fünfzehntausend Arbeiter statt dreissig Dollar fünfzig Dollar verdienen, macht das im Jahr einen Unterschied von mehr als dreieinhalb Millionen Dollar. Kaum anzunehmen, dass Persson diese Kosten übernehmen möchte, wo doch die Kleider in den Filialen künftig noch billiger werden sollen. Und auch Jabbar hat seine Gewinnvorstellungen unmissverständlich ausgedrückt: Die «vision two zero two zero» sieht für die DBL Group einen baldigen Gang an die Börse vor.

Auf der Rückbank des Toyota verbreiten sich der würzige Duft von Jabbars Parfüm und die angenehme Kühle der Klimaanlage. Vor den abgedunkelten Scheiben schieben sich Autos, Tuktuks, bunt bemalte Rikschas Zentimeter um Zentimeter vorwärts, bleiben stehen, hupen, schieben sich weiter, das übliche Verkehrschaos. Dieser Stau wird ihm noch das Abendessen mit seinem Cousin vermasseln, es geht kaum vorwärts.

Im Radio wird ein Kricketspiel kommentiert. Bangladesh gegen die West Indies. Jabbar interessiert sich für Kricket, wenn auch nicht so brennend wie sein Sohn Amman. Er wirft einen Blick in die Tageszeitung «Daily Star», die neben ihm liegt, auch da Kricket. Gestern hat der Bangladesher Spieler Abul Hasan einen Rekord aufgestellt. Jabbar überfliegt den Artikel, dann beobachtet er wieder den Verkehr. Jetzt wäre ein Helikopter gut. Aber dafür braucht man einen Landeplatz, und seine private Dachterrasse ist zu klein. Immerhin plant die DBL Group bei ihren neuen Fabriken Landeplätze von Anfang an ein. Das wird die Effizienz steigern.

Erst kürzlich hat David Savman von H&M wieder angerufen. Ob die DBL Group Interesse habe, in Burma Fabriken aufzubauen, jetzt da die politische Lage im Nachbarland sich entspanne. Burma? Jabbar wirkt, als ob er in seinem Kopf alles schnell durchkalkuliere: die billigen Arbeitskräfte, die Handelsrouten, die Infra­struktur. Zwei Minuten schaut er ins Leere, dann nickt er: «Ja, wieso nicht?»