Der Mann, der eine Frau war, die ein Mann war

Erschienen in DAS MAGAZIN, 22. September 2018

Martin Föhse wurde eine Frau. Dann hatte er vom Leben als Frau genug. Heute ist er wieder ein Mann. Und Experte für beide Rollen.

An einem Nachmittag im Mai steht er vor 150 Studierenden. Ein gut aussehender Mann Anfang vierzig, blauer Anzug, weisses Hemd. Es ist die letzte Vorlesung vor den Semesterferien, Verwaltungsrecht, vier Stunden am Stück. Martin Föhse, Rechtsanwalt und Assistenzprofessor an der Universität St. Gallen, wandert unter seiner Powerpoint-Präsentation umher, eine Hand in der Tasche seiner dunkelblauen Anzughose, in der anderen hält er den Pointer. Einige Studenten checken Facebook, schauen Youtube, die meisten aber lauschen konzentriert, wie Föhse über Kontrollorgane, Verwaltungsorganisation, den Verfügungsbegriff spricht. Ohne Mikro. Noch im vergangenen Herbst hätte er das nicht gemacht, denn damals war er eine Frau. Zu einer Frau passt eine sanfte Stimme, verstärkt durch ein Mikro.

Martin Föhse ist 42 Jahre alt. Bis zu seinem 32. Lebensjahr war er ein Mann und sein Name Martin Föhse. Dann war er zehn Jahre eine Frau und hiess Kathrin Föhse. Seit Januar ist er wieder ein Mann, trägt seinen alten Namen und hat kein Problem damit, laut und ohne Mikro zu sprechen. Wenn er männlich klingt, ist das stimmig.

Kürzlich ist in der HSG-Studierendenzeitung «Prisma» ein Porträt über ihn erschienen. Darin wird seine steile Karriere vom Vermessungszeichner zum Assistenzprofessor detailliert nacherzählt, erst gegen Ende wird erwähnt, dass er die letzten zehn Jahre Kathrin Föhse hiess. Der Student, der den Text geschrieben hat, fand es wohl nicht so wichtig. Oder das Fragen danach indiskret. Andere Studierende haben in den Wintersemesterferien kommentarlos von «Frau Professor» auf «Herr Professor» umgeschaltet.

Seit sein «Wechsel», wie er es nennt, bekannt wurde, hat er keinen einzigen dummen Kommentar gehört. Nur er selbst läuft noch manchmal gedankenverloren Richtung Damen-WC oder greift mit der linken statt mit der rechten Hand nach der Knopfleiste des Jacketts – Jacken für Männer haben die Knöpfe auf der anderen Seite. Ihm scheint, Studierende heute finden seine Geschichte nicht mehr sehr erstaunlich.

Warum also erzählt er sie hier trotzdem? Über die Jahre ist er zu der Einsicht gelangt, dass die Erfahrungswelten von Frauen und Männern sich radikaler unterscheiden, als er es je für möglich gehalten hat. Unverständnis, Kränkungen, Streit – vieles liesse sich vielleicht vermeiden, wenn nicht jeder so in seiner Rolle gefangen wäre. Wenn da mehr Bereitschaft wäre, sich in andere hineinzuversetzen.

«Das ist aber mutig», sagen Bekannte, die ihn als Frau kennen gelernt haben, wenn sie erfahren, dass er jetzt ein Mann ist. Dass es mal jemand mutig finden würde, dass ich ein Mann bin, denkt er. Früher fanden die Leute es mutig, dass ich eine Frau bin.

Anfang mit Echthaar

Vor zehn Jahren, im November 2008, lässt er sich die Haare verlängern. Denn die Haare sind sehr wichtig, wenn es darum geht, was andere in einem sehen, sagt Föhse. Die Coiffeuse ist eine Bekannte aus der Schulzeit, sie hat die Echthaare im richtigen Farbton schon vor Wochen bestellt. Im Parkhaus ist er so nervös, dass er mit seinem BMW einen Pfosten touchiert. Der Termin dauert Stunden, abends verlässt er den Salon mit einem dunkelblonden, schulterlangen Bob. Für den nächsten Tag hat er einen Flug nach Guadeloupe gebucht, zwei Wochen Strandferien, eine symbolische Zäsur und ein kleiner Anlauf für das, was kommt. In der Kanzlei hat er angekündigt, er werde nach den Ferien als Frau zurückkommen.

Zurück in der Schweiz heisst Martin Föhse nun Kathrin Föhse und geht morgens als Businessfrau im schwarzen Hosenanzug aus dem Haus. Sie ist aufgewachsen im Emmental und arbeitet als Anwältin in einer angesehenen Wirtschaftskanzlei nahe dem Bahnhof Bern. Lange hat sie diesen Moment vorbereitet, vielleicht ihr ganzes Leben. Auf der Webseite der Kanzlei werden Name und Foto ausgetauscht. Ebenso im Anwaltsregister. Sie plädiert jetzt als Frau vor Gericht. Laufende Mandate schliesst sie als Martin ab, damit es keine Verwirrungen gibt. Neuen Klienten stellt sie sich als Kathrin vor. Die Sekretärin informiert sie bei jedem Anruf, nach wem verlangt wird.

In Warenhäusern findet sie sich jetzt zwischen Regalen wieder, wo das Duschgel verziert ist mit rosa Schmetterlingen und Blumen, und nicht mehr vor blauen und silbernen Plastikflaschen, auf denen was von Energy und Power steht. Im Restaurant bestellt sie eher einen Salat und verzichtet aufs Dessert, denn sie hat bemerkt, dass sie nun schneller zunimmt. Sie lässt sich im Zug von fremden Männern den Koffer auf die Ablage hieven, auch wenn sie einen Kopf kleiner sind. Sie geht sicher nicht an zwei Tagen hintereinander im gleichen Outfit ins Büro und geniesst es, Trägershirt und Ballerinas zu tragen statt Krawatte und Socken. Es fühlt sich gut an, natürlich.

Kathrin Föhse ist Perfektionistin. Niemand soll an ihrer Weiblichkeit zweifeln. Die Hormontherapie wirkt bereits, die Muskeln sind verschwunden, die Hüften weicher geworden und die Barthaare epiliert. Um sicherzugehen, testet sie ihre Wirkung an Fremden. Früher, als sie noch Martin hiess, arbeitete sie ein paar Monate am Bahnhof Bern im Sicherheitsdienst. Ein gut bezahlter Studentenjob, GA inklusive. Damals, erinnert sie sich, lümmelte in der Halle eine Bettlerin herum, die jedem, der ihr nichts gab, Beleidigungen hinterherbrüllte. Kathrin Föhse geht nun also im Hosenanzug durch den Bahnhof, die Bettlerin steht wieder da, Föhse setzt eine arrogante Miene auf, und tatsächlich, die Bettlerin ruft: «Du dreckige Saufotze!» Und Föhse denkt: Test bestanden. So kann man nur eine Frau beschimpfen.

Ein andermal, als sie bei der Einwohnerkontrolle eine neue ID beantragt, schaut die Mitarbeiterin das alte Dokument an, das Foto von Martin, und sagt: «Tut mir leid, aber da muss Ihr Ehemann schon selbst vorbeikommen.» Bekannte fragen, ob Martin Föhse ihr Bruder sei. Es folgen viele weitere Tests, beiläufig im Alltag, alle besteht sie. Kathrin Föhse sieht aus, als sei sie schon immer Kathrin Föhsegewesen.

Und irgendwie war sie das auch. Einmal, im Kindergarten, soll der fünfjährige Martin die Mutter spielen, erst traut er sich nicht, aber dann macht es ihm Spass. Ein Gefühl, das ihn durch seine Kindheit und Jugend begleitet und von dem er keinem Menschen erzählt.

Martin spielt jahrelang Handball in der höchsten Juniorenliga, frisiert Töffli und macht alle Jungschützenkurse, wie es sich auf dem Land gehört. Bei der Aushebung fürs Militär erreicht er die tagesbeste Punktzahl.

Niemand merkt etwas, aber je älter Martin wird, desto mehr versucht er, sein Wesen zu ergründen. Sich mit der Frage auseinanderzusetzen, warum sich seine Rolle als Mann falsch anfühlt.

Was ist los mit mir? Wo soll mein Weg entlangführen?

Er macht eine Lehre als Vermessungszeichner, die technische Berufsmatura, dann die Matura Typus C und beginnt mit 24 Jahren, an der Universität Bern Rechtswissenschaften zu studieren.

Im Studium lernt er Anita kennen. Die beiden werden ein Paar, und sie ist die erste Person, der er sich anvertraut. Das wars, fürchtet Anita nach dem Gespräch, das Ende der Beziehung. Aber Martin Föhse hat nicht vor, sich zu trennen. Und Anita auch nicht. Später wird sie sagen: «Das Geheimnis hat uns fast noch mehr zusammengeschweisst.» Das Geheimnis sind zu diesem Zeitpunkt bloss Gedanken, die Martin mit sich herumschleppt, Fragen nach seiner Identität. Noch immer hat er grosse Zweifel. Er liest Fachliteratur, geht zum Arzt, er will Klarheit. Aber mit der Zeit muss er erkennen, weder die Bücher noch die Experten können ihm diese Klarheit verschaffen. Am Ende muss man es selbst wissen.

Anfangs probiert er die Frauenrolle nur heimlich aus, wenn niemand dabei ist. Bezeichnenderweise ist es die Kleidung, die für diese Suche eine wahnsinnige Bedeutung hat. Weil das Äussere darüber bestimmt, wie wir wahrgenommen werden, als Mann oder als Frau. Es ist ein Herantasten, Schritt für Schritt. Aber je mehr Raum er der Weiblichkeit gibt, desto besser fühlt es sich an, selbst in dem Bewusstsein, was alles auf dem Spiel steht, seine Beziehung, seine Karriere.

Jede neue Erfahrung liefert ihm ein Puzzleteil, wie es sein könnte, das Leben als Frau. Nicht hin und wieder, sondern immer. Nicht allein zu Hause oder weit weg, sondern bei Familienfeiern und Geschäftsterminen. Nach und nach weiht er seine Freunde ein. Was ihm lange Zeit undenkbar schien, wird zu einer Möglichkeit. Als Jurist kennt er die rechtlichen Schritte.

Anita ist einen langen Weg mit ihm gegangen, fast zehn Jahre sind die beiden zusammen. Sie liebt ihn, aber sie liebt auch, dass er ein Mann ist. Später wird sie sagen: «In gewisser Weise habe ich ihn verlassen, weil ich einen Mann wollte, aber man kann auch sagen, er hat mich verlassen, indem er eine Frau wurde.»

Kathrin Föhse hat den Wechsel vollzogen, kommt von Guadeloupe zurück, und es dauert nicht lange, dann verliert sie ihren Job. Zu wenige Mandate, heisst es in der Kanzlei. Sie vermutet, der wahre Grund ist ein anderer: dass ein Seniorpartner ein Problem hat mit ihrer neuen Identität. Ihr wird ein wichtiger Fall entzogen, und über Nacht verschwinden Aktenmappen aus ihrem USM-Schrank. Trotzdem akzeptiert sie die Entscheidung. Kurz darauf beginnt sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundesamt für Energie. Diesmal will sie sichergehen, dass ihr Chef zu ihr hält. Deshalb legt sie alles offen und kündigt an, dass sie zwei Wochen fehlen wird, um sich operieren zu lassen: der letzte Schritt zur Frau.

Zurück im Büro merkt sie, dass gewisse Dinge nun anders laufen. Energiewirtschaft ist eine Männerdomäne, und von den Kollegen wissen nur wenige von ihrer Vergangenheit. Sie sehen Kathrin Föhse. Wenn sie mit Kollegen, die sie noch nicht gut kennt, ein Sitzungszimmer betreten will, hält jemand ihr die Tür auf, Stühle werden gerückt, das Gespräch verstummt. Es ist respektvoll gemeint von den Kollegen, kein Zweifel, eine Geste der Zuvorkommenheit. Aber sie hat den Eindruck, es dauert, bis alle sich wieder entspannt haben.

Bei den Vorstellungsgesprächen, die sie geführt hat, um diesen Job zu bekommen, meinte sie mehrmals die Frage herauszuhören, ob sie plane, bald schwanger zu werden.

Sie misst 176 Zentimeter, eine gute Grösse, auch für eine Frau. Sie achtet darauf, wie sie sich bewegt, wie sie sich ausdrückt. Welche Kleider ihr stehen. Ihre Haare sind inzwischen nachgewachsen, Extensions braucht sie nicht mehr. Sie schminkt sich dezent und lernt, dass das Beiläufige das Schwierigste ist.

Dann ist da ihre Stimme, anfangs hatte sie sich kaum zu sprechen getraut. Aber mit der Zeit merkt sie, dass ihre Tonlage gar nicht so tief ist. Und dass viel wichtiger ist, welche Wörter sie wählt, wie sie betont. Sie singt ein wenig mehr beim Sprechen, hebt öfter mal die Stimme am Satzende.

Ihr neuer Job in der Bundesverwaltung führt sie regelmässig ins Parlament, sie nimmt an Sitzungen vorberatender Kommissionen teil. Einmal, in der Kaffeepause, kommt eine Ständerätin zu ihr und sagt: «Ich höre Ihnen so gern zu, Sie haben so eine angenehme Stimme.» Ein Kompliment, das Kathrin Föhsenun öfter hört.

Immer wieder unterschätzt werden

Berufsbegleitend schreibt sie ihre Dissertation über Swissgrid, die Schweizer Stromübertragungsnetz-Betreiberin, und bald zählt sie zu den führenden Experten auf dem Gebiet des Energierechts.

In ihrer Publikation kritisiert sie den Gesetzgebungsprozess. Gewisse Parlamentarier, schreibt sie, überschätzten ihre Kompetenz, Gesetzesentwürfe auszuarbeiten. Sie zitiert Bismarck: «Wer weiss, wie Gesetze und Würste zustande kommen, kann nachts nicht mehr ruhig schlafen.» Das kann man als Provokation empfinden, das ist ihr bewusst, sie rechnet mit Wut, mit Widerspruch, aber nichts passiert. Hintenrum wird ihr Kritik zugetragen, aber niemand spricht sie persönlich an. Wenn sie auf ihre 32 Jahre als Mann zurückblickt, kommt ihr das seltsam vor. Schonen die Politiker sie, weil sie eine Frau ist?

Ihr scheint, dass sie nun mehr Kraft aufwenden muss, um sich Gehör zu verschaffen. Dass es länger dauert, bis sie Anerkennung erhält. In einer Sitzung wird über die Auslegung einer Bestimmung diskutiert, und sie sagt: «Sorry, das stimmt so nicht.» Der Kollege insistiert, bis ein Dritter ihn aufklärt: «Hören Sie, sie hat das Gesetz selbst geschrieben.»

Jahre später wird sie in der Kantine einmal von einem jüngeren Kollegen gefragt: «Arbeitest du im Sekretariat?» Und weil sie schon seit mehreren Jahren den Rechtsdienst leitet, antwortet sie: «Nein. Arbeitest du denn im Sekretariat?»

Gleichzeitig beobachtet sie, wie Frauen miteinander umgehen, das hat fast was Verschwörerisches. Man berührt sich schneller, auch wenn man sich kaum kennt, ist sich auf eine andere Art näher. Sie nimmt an vielen Kommissionssitzungen mit Bundesrätin Doris Leuthard teil und ist beeindruckt von deren Dossierfestigkeit. Oft ist nur wenig Zeit, um auf die Fragen der Parlamentarier zu reagieren, und zwischen Kathrin Föhse und Doris Leuthard reicht ein Blick, um sich zu verständigen.

Es kommt jetzt vor, dass Männer ihr das Herz ausschütten. Früher, als Mann, hatte sie mit anderen Männern nie diese persönliche Ebene erreicht.

Immer öfter ertappt sie sich dabei, wie sie das Frausein geniesst. Sie hat jetzt viel weniger Mühe, Schwäche zuzugeben. Zu sagen: Das weiss ich nicht. Einen Fehler einzugestehen. Früher dachte sie: Was denken die anderen? Wenn ich das nicht schaffe, bin ich dann eine Pfeife?

Frauen, lernt sie, lächeln sich auch mal an, wenn sie sich auf der Strasse begegnen.

Einmal findet sie am Ticketautomaten den Knopf nicht gleich, da steht schon ein Fremder neben ihr und fragt: «Kann ich Ihnen helfen?» Es scheint plötzlich in Ordnung, hilfsbedürftig zu sein. Gleichzeitig scheint sie auch hilfsbedürftiger zu wirken. Weicher, wärmer, nachgiebiger scheint ihr das Frauenleben. Wie eine Wohlfühloase, manchmal.

Die alten Freunde bleiben, neue kommen hinzu, vor allem Frauen. Und plötzlich laufen die Gespräche in eine ganz andere Richtung. All die Sorgen und Nöte rund um das Thema Kinder – als Mann hat sie die gar nicht wahrgenommen, im Alltag, in der Karriereplanung. Sie bekommt nun Klagen zu hören, die mit «typisch Mann» anfangen oder enden.

Es sind die kleinen Dinge, die sich verändern. Und natürlich kann sie nie sicher sein, dass es wirklich am Frausein liegt, denn die exakt gleiche Situation hat sie als Mann ja nicht erlebt. Aber über die Jahre sieht sie Muster, die kaum dem Zufall geschuldet sein können.

Sie steht auf Frauen, daran hat sich nichts geändert durch den Wechsel. Das bedeutet: Sie ist nun lesbisch. Wenn Männer mit ihr flirten, berührt sie das auf eigenartige Weise.

Im Büro ein paar Türen weiter arbeitet eine Kollegin, ein paar Jahre jünger, zierlich, schwarze Haare, die viel kopiert. Einmal begegnen sie sich morgens auf dem Weg zur Arbeit, während es regnet, und Kathrin Föhse hält ihr den Schirm über den Kopf. «Regen macht schön», sagt sie, «du hast es nicht nötig, ich schon.» Dann wieder holen sie zur selben Zeit die Post ab, das Fach der Kollegin liegt unter ihrem, nun kennt sie den Namen: Akane, ein japanischer Vorname. Sie verabreden sich zum Mittagessen, ein erstes Date. Kathrin Föhse erwähnt, dass sie die letzten zehn Jahre mit einer Frau zusammen war. Was sie nicht sagt: dass sie ein Mann war.

32 Jahre eines Lebens lassen sich nicht verheimlichen, denkt sie. Irgendwann wird Akane fragen: «Wie war das damals, als du ein kleines Mädchen warst?» Und dann wird sie lügen müssen, denn sie war nie ein kleines Mädchen. Ein Dilemma, vor dem sie immer steht, wenn sie jemandem nahekommt. Akane soll alles wissen. Weil Kathrin Föhse sich vorstellen kann, mit ihr durchs Leben zu gehen.

Aber Föhse unterschätzt die Wirkung, die diese Information auf jemanden hat, der vollkommen unvorbereitet ist. Sie spazieren an der Aare entlang, Akane kann nicht glauben, was sie hört, und sie wird es auch fortan nicht mehr vergessen können. Niemals mehr wird da nur Kathrin sein, sondern immer auch Martin. Warum willst du schon wieder Fleisch essen? Musst du ständig Zeitung lesen? Sie werden ein Paar, aber in den acht Jahren, die sie zusammen sind, kämpft Akane immer auch ein bisschen gegen Martin.

Gleichzeitig schätzt Akane Martin. Er ist der Grund dafür, dass Kathrin die Weiblichkeit wie eine komplizierte Sprache über die Jahre lernen musste und sie nun besser beherrscht als alle anderen. Wie ein überangepasster Migrant. Welche Farben stehen mir? Kathrin hat sich oft beraten lassen. Passende Ohrringe zum Businessoutfit? Sie kennt die richtigen Boutiquen. Akane interessiert sich nicht für Mode, Schmuck oder Make-up, und Kathrin fühlt sich herausgefordert, das zu ändern. «Wir haben dann angefangen, an deinem Stil zu arbeiten», wird sie später mit einem Schmunzeln sagen, «dich musste man in die Läden prügeln.»

Akane ist promovierte Chemikerin, und wenn sie abends vom Labor erzählt, sagt Kathrin manchmal: «Wenn du ein Mann wärst, wäre das anders gelaufen.» Dann hätte ihr Chef besser zugehört. Er hätte nicht den Rat des neuen Kollegen eingeholt, obwohl Akane sich besser auskennt.

Akane beginnt schliesslich, über ihr eigenes Frauenbild nachzudenken. Sie erkennt, wie stark sie verinnerlicht hat, sich zu kontrollieren, sich nicht aufzuregen, um ja nicht hysterisch zu wirken. In Japan, wo sie Teile ihrer Jugend verbracht hat, sind die Rollenbilder noch starrer.

Kathrin Föhse ist völlig anders. Geradeheraus, schlagfertig.

Nach einem Jahr im Bundesamt für Energie wird Kathrin Föhse zur Sektionschefin befördert, sie verantwortet jetzt das gesamte Vertrags- und Beschaffungswesen des Amtes, das Personalrecht, das allgemeine Energierecht, die Strom- und Gasmarktregulierung sowie die Verhandlungen mit der EU über ein Abkommen im Energiebereich. Im März 2011 kommt es zur Nuklearkatastrophe in Fukushima, und sie gerät als federführende Juristin in eines der grössten Gesetzgebungsprojekte des Bundes der letzten Jahrzehnte: die Energiestrategie 2050.

Es sind gute Zeiten für Frauen im Berufsleben. Der Feminismus erlebt eine neue Welle, in den Medien wird über Chancengleichheit diskutiert, und Frauenförderung gilt an vielen Orten als chic. In den Chefetagen sitzen ältere Männer, und um das auszugleichen, werden – vor allem jüngere – Frauen von unten nachgezogen.

Trotzdem entscheidet sie mit vierzig, sie will wieder als Anwältin arbeiten. Die Energiestrategie 2050 ist so gut wie ausgearbeitet, und nach sechs Jahren in der Verwaltung reizt sie wieder die Privatwirtschaft. Vom Bundesamt für Energie wechselt sie zur renommierten Wirtschaftskanzlei Kellerhals Carrard.

Dann erhält sie einen Ruf an die Hochschule St. Gallen für eine Assistenzprofessur in Verwaltungsrecht. Ein prestigeträchtiges Amt für eine Juristin, sie kann es parallel zu ihrer Tätigkeit in der Kanzlei ausüben, wo sie das Pensum reduziert.

Sie tritt der FDP bei. Sie kann sich vorstellen, ein politisches Amt zu bekleiden, vielleicht will sie später noch Richterin werden, und dafür muss man faktisch Mitglied einer Partei sein. 2017 rücken die Grossratswahlen näher, und der Wahlkampfleiter Oberland fragt sie als Kandidatin an.

Sie hat jetzt eine gewisse Bekanntheit erreicht. Sie hält an der HSG Vorlesungen vor Hunderten von Studierenden, arbeitet für die zweitgrösste Wirtschaftskanzlei des Landes, und bald wird sie von den ersten Wahlplakaten herunterlächeln. Sie ist vierzig, und es geht immer weiter hinauf.

Eine Anfrage, ob sie sich vorstellen könne, Mitglied in einem Aufsichtsgremium des Bundes zu werden, dessen Mitglieder vom Bundesrat ernannt werden.

Eine Anfrage, ob sie interessiert sei an einem Mandat im Verwaltungsrat eines Energieunternehmens.

Ein Anruf eines Headhunters, es geht um eine Stelle als Vizedirektorin in einem Bundesamt.

In dieser Zeit beobachtet sie im Zug manchmal die Grosis mit ihren langen Faltenröcken und ihren grauen Mephisto-Schuhen, den Perlenketten und der Dauerwelle, und sie denkt: Werde ich irgendwann so aussehen? Altern als Frau scheint ihr anspruchsvoll.

Erst recht mit ihren Voraussetzungen. Viele Jahre lang hat sich alles leicht angefühlt, richtig und natürlich. Nun spürt sie manchmal diese kleine Anstrengung. Nach endlosen Vorlesungen, in denen sie ihre Haltung und ihre Stimme kontrollieren muss. Bei Vorträgen, wenn Hunderte Augenpaare sie mustern. Es sind die anderen Frauen, deren Blicke sie am meisten fürchtet, sie sind am kritischsten. Dann sehnt sie sich danach heimzukommen, durchzuatmen, sich gehen zu lassen.

Besitzt sie wirklich die Energie durchzuhalten?

Die Juristerei ist eine kleine Welt, und Föhse verdeckt ihre Vergangenheit nicht um jeden Preis. Wer ein bisschen recherchiert, mit alten Studienkollegen spricht oder auf ihre Tätigkeit am Bundesverwaltungsgericht stösst, der findet heraus, dass sie einst Martin Föhse hiess. Was, wenn einer Spass daran hat, es herumzuerzählen? Irgendwo tief drinnen sitzt noch immer die Angst, dass die Vergangenheit sie einholen könnte.

Sie fragt sich jetzt öfter: Kann stimmig sein, was Kraft kostet?

Sie bespricht ihre Zweifel mit Akane. Sie wagt erstmals den Gedanken: Wäre es eine Möglichkeit, wieder als Mann zu leben? Akane findet es bedenkenswert. Vielleicht würde es der Beziehung sogar guttun, wäre da nur noch Martin.

Für das Verwaltungsratsmandat im Energieunternehmen müsste Kathrin Föhsetiefer in der Region verwurzelt sein, stellt sich heraus. Aber dass man überhaupt an sie gedacht hat – da ist sie sicher –, hat sie auch dem Umstand zu verdanken, dass sie eine Frau ist. In dem Gremium sitzen acht Männer und eine Frau.

Sie wird eingeladen zum Assessment für den Job als Vizedirektorin des Bundesamts. In dieser exponierten Position kann man sich eine reisserische Schlagzeile nicht leisten, denkt sie und legt ihre Pläne offen: «Ich war früher ein Mann und will wieder einer werden.» Sie durchläuft das Assessment und wird für den Job empfohlen. Dann aber erhält sie eine Absage. Die zweite Kandidatin wird eingestellt mit der Begründung, bei gleichen Qualifikationen werde die Frau genommen und sie werde ja dann keine mehr sein.

Ohne Frage, für ihre berufliche Laufbahn wäre es heute besser, eine Frau zu bleiben. So wie es vor zehn Jahren besser gewesen wäre, ein Mann zu bleiben. Aber ihre Entscheidung steht fest. Im Herbst 2017 beginnt sie, Testosteron zu spritzen, die erste Vorbereitung auf den Wechsel zum Mann. Sie engagiert eine Kommunikationsberaterin, um an der HSG und in der Kanzlei anzukündigen, dass sie ab dem Frühlingssemester 2018 Professor Dr. Martin Föhse heissen wird.

Sie weiss, keine Law School kann es sich leisten, jemanden rauszuwerfen, weil er sein Geschlecht wechselt. Trotzdem ist sie gerührt, wie die Kolleginnen und Kollegen reagieren. Einer vertraut ihr seine Vorlesung für das kommende Semester an, eine Professorin und der Dekan kümmern sich persönlich, die Kommunikation nach aussen wird aufgegleist.

Die Kanzlei macht ihr mehr Sorgen, nach der schlechten Erfahrung vor zehn Jahren, als sie ihren Job verlor. Sie vereinbart ein Gespräch mit dem Managing Partner und eröffnet ihm, was sie vorhat, dass sie bald wieder Martin Föhse sein wird. Als sie alles gesagt hat, schaut er sie an und stellt nur eine Frage: «Wie können wir dich unterstützen?» Auch hier verläuft der Wechsel problemlos, die Klienten bleiben, und neue kommen hinzu.

An einem Sommernachmittag 2018 betritt Martin Föhse, Aktentasche unter dem Arm, ein Zürcher Café. Eine Stunde hat er eingeplant für ein Gespräch mit dem «Magazin», anschliessend muss er weiter nach St. Gallen an die HSG, ein Apéro, an dem er sich blicken lassen sollte.

Er ist nun seit fünf Monaten wieder Martin Föhse und sieht mit den kurzen, blonden Haaren und den schwarzen Budapester Schuhen auch zu 100 Prozent so aus. Wenn man ihn fragt, wie es sich anfühlt, dann lächelt er und sagt: «Gut, es fühlt sich gut an.» Man könnte nun auf die Idee kommen, dass alles ein Irrtum war. Dass seine Zeit als Frau ein Fehler war, den er erkannt und behoben hat. Aber das ist nicht der Fall. «Die letzten zehn Jahre waren eine dermassen bereichernde und schöne Zeit für mich», sagt er. «Eine tolle Erfahrung, die ich um keinen Preis missen will. Ich sage das in dem Bewusstsein, dass man dazu neigt, sich Dinge im Nachhinein schönzureden.»

Später, beim Bezahlen, holt er ein weisses Portemonnaie aus der Tasche. Das «Monogram Multicolore»-Design mit den kleinen farbigen Logos, entworfen vom japanischen Starkünstler Takashi Murakami für Louis Vuitton. Ein Frauenaccessoire, eindeutig. Aber es reut ihn, es auszusortieren.

Und es scheint ihm auch nicht nötig. Kürzlich stand er nach einer Tagung mit einem anderen Teilnehmer im Tram und lobte euphorisch die Vorzüge des Gasherds. Plötzlich dachte er: «Ist es überhaupt angemessen, dass ich mich als Mann derart fürs Kochen begeistere?» Aber ja, völlig angemessen, dachte er dann. Warum soll ich Bier trinken, wenn es mir nicht schmeckt? Warum so tun, als hätte ich immer alles im Griff, wenn das nicht der Fall ist? Warum auf mein Kaffee- und-Kuchen-Ritual verzichten? «Die zehn Jahre als Frau haben mir geholfen, mich mit meinen weiblichen Seiten zu versöhnen», sagt er. Vieles, wozu er sich früher genötigt fühlte, lässt er heute einfach bleiben.

In letzter Zeit denkt er oft: Meine Erfahrungen würden vielen guttun. Frauen wie Männern.

Die Kaderjobs zum Beispiel, die er nicht bekommen hat. Es scheint ihm, als ob manch einer noch nicht ganz verstanden hat, worin der Mehrwert einer Frau in einem Gremium liegen kann, was der Sinn von Diversity ist. Gelegentlich kommt es ihm so vor, als ob einfach unter öffentlichem Druck eine Quote erreicht werden soll, wodurch das «Frausein» auf ein formales Kriterium reduziert wird, welches neben dem passenden Abschluss mitzubringen ist. Will man die Frau einfach nur dabeihaben, weil sie eine Frau ist? Oder weil sie andere Erfahrungswelten, einen anderen Blickwinkel einbringt?

Kürzlich kam eine Einladung zum Treffen der FDP-Frauen, als Kathrin hatte er regelmässig teilgenommen, die Themen interessieren ihn weiterhin, also fragte er: «Darf ich noch kommen?» Er durfte.

Die pauschale Behauptung, als Frau sei man in der Berufswelt immer benachteiligt, scheint Martin Föhse heute manchmal etwas larmoyant. Er selbst hat als Frau Karriere gemacht. Möglicherweise profitierte er dabei von seiner Sozialisierung als Mann. Aber er hat durchaus auch immer wieder beobachtet, wie Kolleginnen mit einem kleinen Flirt einen lukrativen Auftrag, das Vertrauen des Chefs oder eine Beförderung erlangten. Wie sie aus ihrer Weiblichkeit Kapital schlugen. Was er in Ordnung findet, nur dürfe es nicht vergessen gehen in der Diskussion.

Allerdings weiss er auch, wie es sich anfühlt, nachts in hohen Schuhen und Abendgarderobe allein an einer Gruppe betrunkener Männer vorbeizugehen. Wie unangenehm es ist, bei einer Tagung von einem Arbeitskollegen aufs Hotelzimmer eingeladen zu werden. Wie gross die Hürde ist, eine Szene zu machen, wenn ein ehemaliger Regierungsrat einem bei einem Apéro den Arm um die Taille legt. Vor allen anderen. Wie wenig man dann alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen möchte, um nachher als zimperlich oder zickig zu gelten.

Dann wiederum gibt es, nun als Martin Föhse, Veränderungen, mit denen er nie gerechnet hat. Mit Kolleginnen, mit denen er früher zu Mittag ass, stellt sich jetzt die Frage, ob es den Anschein macht, man habe eine Affäre. Es könnte Gerüchte geben.

Ein Mittag im August, er ist zu Besuch bei Anita, seiner Ex-Freundin. Der Tisch im Garten ist gedeckt, zwischen den Ästen des Apfelbaums klemmt ein Sonnenschirm. «Schau mal, der Schirm da oben», sagt Felix, Anitas dreijähriger Sohn, während er in seinen Spaghetti stochert, «bricht der nicht den Ast ab?» – «Und wenn, dann gibts Apfelmus», sagt Martin Föhse, und Felix kichert. Anita und ihr Mann haben Felix vor einem halben Jahr erklärt, dass seine Gotte nun ein Götti ist und nicht mehr Kathrin heisst, sondern Martin.

Anita schöpft Salat, Martin Föhse hat eine juristische Fachfrage, die er mit ihr besprechen möchte, sie ist ebenfalls Anwältin, dann hilft er Felix, das Wubble Bubble aufzupumpen, einen klebrigen, grossen Ball.

Felix springt mit dem Wubble Bubble über die Wiese, vorbei an den Johannisbeeren und Kürbissen, die Anita gepflanzt hat, und Martin Föhse schaut ihm nach. Manchmal überkommen ihn Zweifel. Macht er einen Fehler? Wird er es bereuen, sein Leben als Frau vermissen? Damals, mit 32, als er sich zum ersten Wechsel entschied, war er sehr unglücklich, sah keinen anderen Weg. Das ist jetzt anders. Wieder ein Mann zu sein, fühlt sich leicht an, ein bisschen wie nach Hause kommen nach einem tollen Urlaub. Er wird mit Felix Fussball spielen und sich vielleicht wieder einen Töffkaufen. Anita, die ihn kennt wie kaum eine andere Person, sagt: «Ich glaube, du kannst in beiden Rollen glücklich sein. Als Mann und als Frau.» Sie denkt kurz nach, dann sagt sie: «Aber die Zeit zwischen dreissig und vierzig ist super, um eine Frau zu sein – da hast du die richtige Phase erwischt.»

Kürzlich hat er sein zweites von drei Göttikindern besucht. Dessen älterer Bruder, der sechs ist, umarmte ihn und fragte: «Was bist du eigentlich – eine Frau oder ein Mann?» Martin Föhse wollte eine ehrliche Antwort geben, deshalb dachte er nach und sagte schliesslich: «Weisst du, ganz sicher bin ich mir da auch nicht.»