Die Kultur, das Brot und ich

Erschienen in DAS MAGAZIN, 19. November 2016 und in NEON, April 2017

Die Geschichte einer Obsession

Es begann in der Berliner Küche meiner schwedischen Freundin Malin Elmlid. Ein Vormittag im März vor eineinhalb Jahren. Gleich würden wir zusammen durch Prenzlauer Berg schlendern. Einen Espresso bei The Barn trinken, später auf der Museumsinsel in die Sonne blinzeln.

Was ich sonst noch in Berlin erlebt habe, welche Clubs oder Galerien ich besucht habe, welche Freunde getroffen? Ich weiss es nicht mehr. Woran ich mich aber genau erinnere, ist eine Scheibe Brot.

In Malins Küche war es warm und roch verbrannt. Der Grund: Zwei dunkelbraune Brotlaibe kühlten auf dem Ofen ab. Malin setzte das Messer an und richtete den Blick auf die herunterkippenden Scheiben. Hoch konzentriert. Dann nickte sie und gab mir eine Scheibe, dick mit Butter bestrichen. Die Kruste krachte zwischen den Zähnen. In meinem Mund wurde es süss, salzig, fruchtig. Ich kaute und schwieg. Ich verstand nichts von Kochen und Backen. Die Fixierung aufs Essen ist der Sex des Alters, dachte ich, aber: Noch nie, nicht als Kind und auch nicht später, hatte ich so ein köstliches Brot gegessen.

Zurück in Zürich stellte ich ein Einmachglas auf die Fensterbank, füllte 50 Gramm Roggenmehl hinein, rührte Wasser darunter und wartete. Ich würde lernen, dieses Brot zu backen. Und wenn es mich Jahre kosten würde. Nach ein paar Tagen begann der Brei zu stinken wie vergorene Milch, das Mehl sackte ab, und an der Oberfläche bildete sich eine schleimige Brühe. Sonst passierte wenig. Es war ein bisschen wie früher im Chemieunterricht: Ich starrte auf ein Glas und wartete, ohne zu wissen, worauf.

Mehl, Wasser und Salz – mehr braucht es nicht für das perfekte Sauerteigbrot. Keine Farbstoffe, keine Schimmelverhüter, keine Emulgatoren und vor allem: keine Hefe. Hefe im Sauerteigbrot ist wie Doping bei der Tour de France: ein Verrat an den Idealen.

Schritt eins, also: den Sauerteig züchten. Die Hefepilze und die Milchsäurebakterien, die sich im Einmachglas auf meiner Fensterbank bilden würden, wenn ich lange genug wartete, würden den Teig später gären und aufgehen lassen. Malin hatte angeboten, ich dürfe sie bei Fragen jederzeit anrufen. Sehr grosszügig, fand ich. Über Jahre hatte sie sich mühsam Tricks und Kniffe angeeignet, hatte in ihrer Freizeit in Bäckereien in Paris und San Francisco gelernt und mehr als 1500 Brote gebacken. Sie hat sogar ein Buch übers Backen geschrieben. Später würde ich begreifen, dass die besten Ratschläge der Welt ohne monatelanges Üben nichts wert sind.

Erst seit zweihundert Jahren wird Hefe überhaupt zum Brotbacken verwendet. Vorher war jedes Brot ein reines Sauerteigbrot. Durch den langen Gärprozess, der ohne Hefe notwendig ist, bläht sich der Teig nicht nur auf, es entstehen auch mehr Aromen, und das Brot bleibt länger frisch. Mit Sauerteig zu backen braucht vor allem eins: Zeit. Und die ist heute eine teure Ressource: In dem Tempo, in dem die Tiefkühlbackwaren Schweizer Restaurants und Supermarktregale erobern, verschwinden die Traditionsbäckereien. Gab es zu Beginn der 1980er-Jahre noch mehr als 3800 Betriebe, waren es 2014 nur noch 1700 – weniger als die Hälfte.

Ist das ein Brot oder ein Kuhfladen?

Nach zehn Tagen entdeckte ich am Rand des Einmachglases einzelne Bläschen. Es ging los! Anders als früher im Chemieunterricht war ich nun neugierig. Jeden Abend, wenn ich nach Hause kam, schüttete ich einen Teil des Breis in die Toilette und rührte neues Mehl und Wasser in das Glas. Kiloweise spülte ich Mehl in die Kanalisation – was für eine Verschwendung. Aber langsam vermischten sich im Glas der Brei und die schleimige Brühe. Die Oberfläche hob sich, der Gestank wurde penetranter, durch die Glaswand sah ich mehr und mehr Blasen. Die Pampe begann zu leben. Ab jetzt würde sie meine Fürsorge brauchen wie ein Haustier. In den Internetforen, in denen ich mich nun regelmässig informierte, kursierten dafür zärtliche Eigennamen. Ich hingegen sagte etwas unsicher weiterhin «die Kultur». Eine Kultur, ahnte ich, die mich bald dominieren würde.

Mein erstes Brot glich einem trockenen Kuhfladen und hatte auch dessen Konsistenz. Es kam steinhart aus dem Ofen und war mit meinem Ikea-Brotmesser kaum zu bezwingen. Mit den luftigen, wohlgeformten Brotlaiben, die in Malins Buch abgebildet waren, hatte es so viel gemein wie der Aufsatz eines Primarschülers mit einem Roman von Flaubert. Dabei hatte ich Malins Angaben präzis befolgt. Ich hatte die Kultur täglich gefüttert, Mehl und Salz aufs Gramm genau abgewogen, vermischt, Stunden gewartet, den Teig gefaltet, wieder gewartet, kontrolliert, gefaltet, den Ofen vorgeheizt, belüftet, Wasserdampf erzeugt. Ich kaute auf dem gummiartigen, gebackenen Teigstreifen herum und akzeptierte die niederschmetternde Wahrheit: Ich konnte nichts.

Ehrgeiz in der Freizeit war mir bis anhin fremd. Wenn meine Beine im Yoga zu zittern begannen, liess ich mich auf die Matte sacken. Wenn ein Buch mich langweilte, legte ich es weg. Warum sich das Leben schwer machen, wenn man es auch leicht haben kann? Aber nun ging es mir wie Alan Rusbridger, dem Ex-Chefredaktor der britischen Zeitung «The Guardian», der sich in den Kopf setzte, Chopins Ballade Nr. 1 in g-Moll op. 23 auf dem Klavier zu beherrschen. Es dauerte ein Jahr bei ihm, und er hat darüber ein Buch geschrieben.Auch ich hatte Lust auf eine Herausforderung.

Ein reines Weizensauerteigbrot ist unglaublich schwierig herzustellen, weil Timing und Temperatur während des ganzen Prozesses stimmen müssen, die Bedingungen aber immer andere sind. Je nach Tages- und Jahreszeit schwankt die Lufttemperatur. Mit der Lufttemperatur variiert die Gärung. Je nach Gärgeschwindigkeit gelten für die Arbeitsschritte andere Zeiten. Das Ganze dauert mindestens zwölf, eher 24 Stunden, in denen man sein Leben um die schwer vorhersehbaren Wünsche des Brots herumdrapieren muss. «Der Teig muss in der richtigen Laune sein, wenn man mit ihm backt», sagt Malin. Wie ein verwöhntes, unausgeglichenes Kind.

Was sonst noch schiefgehen kann: Enthält das Mehl zu wenig Gluten, bindet es Wasser schlecht, und das Brot wird matschig. Drückt man den Teig zu kräftig, platzen die Luftblasen. Ist der Teig zu fest, schmeckt das Brot später trocken. Gerät beim Formen des Laibes Mehl zwischen die Teigfalten, kriegt das Brot Risse. Steht die Ofentür zu lange offen, entweicht die Hitze, und der Laib geht zu langsam auf. Liegt er im Ofen auf der falschen Höhe, bräunt er einseitig. Wird das Brot beim Abkühlen feucht, verliert es seine knusprige Kruste.

Brot war immer mehr als ein Lebensmittel. «Unser tägliches Brot gib uns heute», lautet die vierte Bitte des Vaterunsers. In der Eucharistie symbolisiert das Brot den Leib Jesu Christi. Muslime teilen es traditionell mit ihren Gästen. Brot ist in vielen Weltregionen Hauptnahrungsmittel und gilt als Symbol des Lebens.

Das «Für Elise» des Brotbackens

Ich übte weiter. Zuerst mit dem Anfängermehl Roggen. Ich mischte: 100 Gramm Kultur, 400 Gramm Roggenmehl, 300 Gramm Wasser und 11 Gramm Salz. Das Roggenkorn enthält im Vergleich zum Weizenkorn kaum Klebstoffe, was bedeutet, dass der Teig nur wenig aufgehen kann. Man kann nicht brillieren, aber auch nicht scheitern: Ein kompaktes Roggensauerteigbrot, wie das traditionelle Walliser Brot, ist sozusagen Beethovens Klavierkomposition «Für Elise». Mit ein bisschen Geduld schafft es jeder. Mit meinem neu gekauften Brotmesser sägte ich die kleinen, festen Laibe in dünne, gleichmässige Scheiben. Abends duftete es in der ganzen Wohnung nach Karamell und Popcorn – wer mich besuchte, kommentierte das bereits an der Tür.

Das noch warme Brot roch säuerlich und schmeckte besonders gut zu kräftigem Weichkäse, zum Beispiel Roquefort. Dazu ein Schnitz Birne. Manchmal backte ich Baumnüsse in den Teig. Die Kruste trainierte die Kiefermuskeln, und wenn sie leicht verbrannt schmeckte – wie bei Malin –, war ich ein bisschen stolz.

Es hat mir freundlicherweise niemand ins Gesicht gesagt, aber die Sache nahm Züge von Besessenheit an. Ich hatte mir nicht nur ein hochwertiges Brotmesser gekauft, sondern auch einen Leinenbeutel, um das Brot aufzubewahren, und mindestens fünf Backbücher. Ganz zu schweigen von den Tüchern, die ich von Hand zugeschnitten und gesäumt hatte, den Gärkörbchen, Spachteln, Teigschiebern, Schüsseln, der Waage und dem Brotstein sowie dem Ofenthermometer.

Meine Freunde fragten nicht mehr: Was recherchierst du gerade? Sondern: Wie gehts dem Brot? Dankbar setzte ich zu Erklärungen an: Wie gut die Unterseite bräunte, seit ich das Blech unter die Brennstäbe am Ofenboden schob, um Wasserdampf zu erzeugen, statt darüber! Was ein bisschen Weizenmehl geschmacklich bewirkte! Welchen Unterschied es machte, die Gärung mehrstufig anzusetzen, also die Hälfte des Mehls erst zwölf Stunden später hinzuzufügen!

Wichtige Fragen konnte ich wochenlang nur mit mir selbst diskutieren, da von meinen brotunkundigen Freunden keine konstruktiven Beiträge zu erwarten waren: War es besser, das Brot vor dem Backen an der Oberseite einzuschneiden oder nicht? Grundkenntnisse setzte ich bald voraus. Die Krume? Ja, das ist natürlich das weiche Innere des Brots. Ich vergass, dass es in meinem Umfeld Menschen gab, die Roggenmehl optisch nicht von Weizenmehl unterscheiden konnten. Meine Freunde hörten geduldig zu, für meine Monologe interessierten sie sich wohl nur aus Höflichkeit. Aber, und das war wichtig: Sie interessierten sich zunehmend für mein Brot.

Meistens backte ich zwei Laibe gleichzeitig. Um das zweite Brot verschenken zu können, musste ich das erste selbst essen. Denn nur indem ich es aufschnitt und probierte, konnte ich herausfinden, ob es gelungen war. Ich ahnte, ich würde mich durch viele Brote hindurchfressen müssen, wie die kleine Raupe Nimmersatt, um irgendwann zum Schmetterling zu werden und das perfekte Brot zu backen.

Mit wachsendem Selbstbewusstsein stieg ich von Roggenmehl auf Weizenmehl um. 100 Gramm Kultur, 400 Gramm Weizenmehl, 300 Gramm Wasser, 11 Gramm Salz. Der Brotkontrast verläuft in Europa von Norden nach Süden – vom skandinavischen Schwarzbrot aus ganzen Roggenkörnern bis zur italienischen Ciabatta aus dem gemahlenen Mehlkörper des Weizenkorns. In der Schweiz werden vor allem Ruchbrot und Weissbrot gegessen. Dunkle Brote passen wegen des intensiven Geschmacks nicht zu allen Speisen. Morgens zum Beispiel wollte ich die Konfi lieber auf einer luftigen, süsslichen Scheibe Weizenbrot verteilen. Längst hatte ich aufgehört, Supermarktbrot zu kaufen. Hinzu kam: Ich wollte mich auf die nächste Schwierigkeitsstufe vorwagen.

Ein reines Weizensauerteigbrot kann man nicht kaufen. Es ist ein Hobby für Verrückte. Wie Kopfballtischtennis spielen oder Gartenzwerge reparieren. Besonders beliebt ist das Backen von reinem Weizensauerteigbrot im Silicon Valley, weil der chemische Prozess der Gärung denselben mathematischen Gesetzen folgt wie ein Programmiercode. Man muss nur die Gleichung knacken. Anfang der Nullerjahre erfasste die sourdough revolution San Francisco. Chad Robertson – ein Surfer, schön wie aus der Werbung – eröffnete seine Tartine Bakery und wurde zum Star der Szene. Californian style raunt man seither, wenn ein Weizenbrot nur mit Sauerteig gebacken wurde, innen luftig ist und aussen leicht verbrannt. Alle pilgerten hin, Malin war da und auch Jens Jung, der Chef von John Baker, der Lieblingsbäckerei der gut verdienenden Zürcher.

«Beim Brotbacken Hefe zu verwenden, das ist, wie abgefülltes Mineralwasser zu trinken», sagt er, als ich ihn in seiner Backstube am Helvetiaplatz besuche. Heute mischt er trotzdem ein winziges bisschen Hefe in den Teig für seine täglich tausend Brote, deren Kruste kracht wie kaum eine andere und deren glasige Krume eine besonders lange Garzeit verrät. Er tut es nicht gern, aber das Risiko sei einfach zu gross. «Die Kunden erwarten konstante Qualität.» Sie hätten kaum Verständnis, wenn die Ladentheke von Zeit zu Zeit leer bliebe.

Malin hingegen versucht gar nicht erst, ihre Miete über das Brot zu finanzieren. «Ein Preis, der meinem Arbeitsaufwand entspricht, würde bei mindestens dreissig Euro pro Laib liegen», sagt sie. Weil das keiner zahlt, begann sie zu tauschen. Sie verschenkte Brot und erhielt dafür Reitstunden, Blumensträusse, italienisches Mehl, selbst bedruckte Einkaufsbeutel. Sie handelte erst mit Freunden, dann mit Fremden. Manchmal klingelte ein Velokurier an ihrer Tür, nur um ein frisch gebackenes Brot pünktlich zum Abendessen in das 20 Kilometer entfernte Villenviertel Grunewald zu liefern.

Malin hatte für ihren Ruhm geschuftet, auch ich musste Opfer bringen. Oft backte ich nachts um eins, wenn ich müde war, der Teig aber in der richtigen Laune. Verabredungen mussten kurzfristig nach hinten verschoben werden, weil noch ein Brot im Ofen war. Ich stellte den Wecker zwei Stunden früher, um noch vor der 9-Uhr-Sitzung zweimal zwei Brote backen zu können.

Spontane Drinks rächten sich. Kam ich gegen elf Uhr abends heim, überzog den Teig bereits eine ledrige Haut, darunter nur noch ein schwabbeliges, in sich zusammengefallenes Etwas. «Du kommst zu spät!», schrie der Teig mir beleidigt entgegen. An meinen Händen verheilten Brandblasen. Nachts schreckte ich hoch, weil ich die Teigschüssel auf dem Balkon vergessen oder die Kultur nicht gefüttert hatte. Ich besuchte zum ersten Mal in meinem Leben einen Backkurs. Verreiste ich übers Wochenende, brachte ich die Kultur mit einem Paket Mehl und genauen Instruktionen zu meinem Bruder, der kürzlich Vater geworden war. «Dann haben wir jetzt noch ein zweites Baby», sagte er.

Im Mittelalter ass jeder Mönch im Kloster Bern angeblich zwei Kilo Brot täglich. In den vergangenen Jahren hat der Brotverzehr stark abgenommen, heute isst der Durchschnittsschweizer noch 130 Gramm am Tag. Das mag an den vielen Alternativen liegen, vom Burger bis zum Quinoa-Salat. Und an dem wachsenden Ernährungsbewusstsein: Gluten-Allergien, Low-Carb-Diäten, Weizen-Unverträglichkeiten, die vielen Kalorien – sie machen es dem Brot, besonders dem weissen, nicht leicht.

Es wurde Sommer, und die Fruchtfliegen in meiner Küche fanden Gefallen an der Kultur. Rutschte der Deckel, den man nicht festschrauben darf, zur Seite, musste ich die Fruchtfliegen einzeln mit der Gabel aus dem Mehlbrei fischen. Zum Glück recherchierte ich den Tipp mit den Nylonstrümpfen: Füsse abschneiden und über das Glas stülpen. So konnte die Kultur atmen, ohne von Fluchtfliegen belästigt zu werden. Im Alter von neun Monaten, sagt man, erlangt eine Sauerteigkultur ihre volle Kraft. Meine war jetzt älter als ein Jahr – ausgewachsen also. Auf keinen Fall durfte sie Schimmel ansetzen, denn das hiesse: alles auf Anfang. Jedes Mal, wenn die Bakterien und Hefen besonders aktiv wurden und das Glas überquoll, weil ich übermotiviert gefüttert hatte, musste ich einen Strumpf aus meiner Kommode opfern.

In meiner Wohnung herrschten inzwischen Zustände wie nach einem Wüstensturm. Der feine helle Staub war überall. Putzen war sinnlos, schon mit dem nächsten Brot kam der Mehlschleier zurück.

Immer wieder erlitt ich Rückschläge. Das Brot sah dann aufgeschnitten aus wie die Tropfsteinhöhlen, die ich als Kind in der Dordogne besichtigt hatte. Beim Frühstück sass ich meinem Freund gegenüber und starrte deprimiert auf die Zitronenkonfitüre, die durch riesige Löcher – besser gesagt: durch das eine riesige Loch – auf seinen Teller hinabtropfte. War ich die schlechteste Bäckerin der Welt?

Prof. Brot

Ich brauchte eine Einschätzung. Von ganz oben. Ich würde den Schweizer Brotgott fragen, Michael Kleinert, Professor  an der ZHAW, Schwerpunkt: «Aromaforschung Brot». Mit wissenschaftlichen Methoden erforscht er die Eigenschaften von Brot. Er hat das sogenannte Brotaroma-Rad erfunden, zig Brotinterviews gegeben, berät die Brotindustrie und sitzt in diversen Brotexperten-Gremien.

In seinem Büro in Wädenswil hat er sofort ein Holzschneidebrett und ein Sägemesser zur Hand, als ich ihm mein Brot überreiche. Er schneidet den Laib routiniert einmal quer und einmal längs durch. Vor ihm liegt der Testbogen, die Bewertungsskala reicht von eins bis zehn.

«Eine dicke Kruste, bei acht. Könnte sein, dass Sie einen etwas zu kalten Ofen haben», sagt er mit prüfendem Blick. «Jetzt kommt etwas Spannendes: Sie haben einen hochgezogenen Rand.» Auf ein Flipchart zeichnet er den Winkel Alpha. «Hier wirkt sehr viel Kraft ein. Dieses Gebäck war noch nicht ausreichend gegangen. Vielleicht schaffen Sie sich ein Teigthermometer an.»

Wir schnüffeln an der Krume. Ein Brot enthält 300 bis 500 Aromastoffe. Kleinert kennt sie alle. «Ganz wenig Bitterkeit», urteilt er, während er auf der herausgepuhlten Krume kaut, «eine feine Säure, ausgewogen für meinen Geschmack, wenig Salz. Mittlere Süsse, Umami ist ganz schwach. Eine frische Getreidenote. Auch eine leichte fruchtige Note. Das hängt mit Ihrem Sauerteig zusammen. Und die Kruste: eine milde Popcornnote, leicht karamellig.»

Kleinert hat zwei Jahre die Produktion der Tiefkühl-Grossbäckerei Hiestand geleitet, er verliert kein schlechtes Wort über industriell hergestelltes Brot. Die Stilisierung des Bäckers im Trägerhemd vor dem Holzofen sei ein klarer Fall von Zukunftsverweigerung. «Die Bäckerei von heute ist ein Grossbetrieb, wo die Öfen 13 000 Baguettes die Stunde ausspucken», sagt er. Wer diese Realität verleugnet, leide an Ökoromantizismus. Aber auch seine Mitarbeiter forschen zurzeit an einem Projekt zur Sicherung des Kulturerbes Sauerteig.

«Ein Sauerteig zu Hause – das ist etwas Tolles!», sagt er zum Abschied. Ich bin ratlos. Mein Brot scheint gut zu sein, aber nicht überragend. Ein Teigthermometer also? Die Suche nach diesem Gerät führt mich in Fachgeschäfte, in denen es japanische Messer ausschliesslich für Sushi gibt und Schneidebretter zum Preis einer Monatsmiete. Aber selbst hier hat der Mitarbeiter nur ein Fleischthermometer im Angebot. Und das könne er mir nicht guten Gewissens empfehlen. In dem Geschäft für Profiköche, in das er mich schickt, erklärt mir der Verkäufer, selbst Koch, nach einer kurzen Internetrecherche höflich, so etwas könne er leider nicht bestellen, er bezweifle aber auch, wenn er ehrlich sei, dass man es wirklich benötige. Da erkenne ich: Er hat recht, es reicht.

Das Brot, das ich am nächsten Tag ohne Teigthermometer und ohne den Anspruch backe, es müsse besser werden als alle je gegessenen, je gebackenen Brote, schmeckt mir so gut wie lange nichts mehr.

Noch immer ist der Winkel Alpha grösser null. Aber wie hat Kleinert gesagt? «Ein Expertentest ist etwas völlig anderes als ein Beliebtheitstest.» Leuchtet mir ein. Ich habe in den vergangenen eineinhalb Jahren gelernt, das Brot zu backen, das ich am liebsten esse. Es gelingt nicht immer, aber oft. An guten Tagen schmeckt es wie damals in Malins Küche in Berlin. Ich habe unsinnig viel Zeit investiert, mir abseitiges Expertenwissen angelesen, Triumphe gefeiert und Niederlagen erlitten. Und das fühlt sich gut an. Auch wenn es nur Brot ist. Oder gerade deswegen.