Afro-Power

Erschienen in DAS MAGAZIN, 18. Oktober 2014

Afrikanische Haare gelten als fusselig und abartig. Deshalb glätten die meisten schwarzen Frauen ihre Krause. Eine neue Befreiungsbewegung will damit Schluss machen

Eine Locke ist nicht bloss eine Locke, für Yvette Mumanyi ist sie eine Ansage. Mit den Fingerspitzen entrollt sie zwei Haarsträhnen, die sie am Vorabend wie eine Kordel umeinandergeschlungen und als Knoten auf ihrem Kopf befestigt hat. Achtzehn solcher Bantu-Knoten hatte sie über Nacht. Nun löst sie einen nach dem anderen, und die Haare fallen ihr in Kringeln auf die Schulter. Eine natürliche Dauerwelle, ohne Lockenwickler, Klammern, Spray.

Mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtet sie sich im Spiegel. Es sind ihre eigenen Haare, und das ist nicht selbstverständlich. Denn Yvette hat afrikanische Haare, Typ 4c, z-förmig.

Haare werden in drei ethnische Gruppen unterteilt: asiatisch, europäisch-kaukasisch und afrikanisch. Glaubt man dem Starstylisten Andre Walker, der unter anderem Oprah Winfrey betreut, ist das wichtigste Merkmal die Krümmung: 1 (gerade), 2 (gewellt), 3 (gelockt) und 4 (zickzack), jeweils mit den Unterkategorien a, b, c. Asiatische und europäisch-kaukasische Haare haben eine Krümmung zwischen 1a und 3b. Bei 3c beginnen die afrikanischen Haare, und da wird aus einem Badezimmerthema plötzlich Politik.

Verbrannte Kopfhaut

Yvette setzt sich in der Stube auf einen Sessel und klappt ihr MacBook auf. Sie ist 22 Jahre alt, studiert Massenkommunikation und wohnt mit ihrer Familie in Karen, dem wohlhabenden Stadtteil von Nairobi, einer Stadt mit Palmen und Wolkenkratzern, in der sechzig Prozent der Einwohner in Slums leben und Passanten manchmal am helllichten Tag eine Pistole an die Schläfe gehalten wird. Vor einer Woche hat Yvette angefangen, einen Blog zu schreiben: «Mane Attraction», Attraktion Löwenmähne, nennt sie ihn. Ihr Thema: afrikanische Haare. Ihr Ziel: Sie will anderen Afrikanerinnen beibringen, ihre natürlichen Haare zu pflegen und zu frisieren. Kaum eine kann das.

Die meisten Kenianerinnen, wie auch die Frauen in anderen Ländern Afrikas, glätten ihre Afrokrause. Weil es von ihnen erwartet wird.

Das geht so: Die Haare werden in Büschel getrennt, die Glättungscreme wird auf dem Ansatz verteilt und wirkt je nach Haardicke zehn bis fünfzehn Minuten ein. Die Chemikalien dringen in die Wurzel vor und weichen das Haar auf, sodass es nicht in Zickzackform, sondern gerade aus der Kopfhaut wächst. Schwangeren wird empfohlen, damit aufzuhören, weil die Chemikalien so giftig sind. Wenn man die Creme zu kurz einwirken lässt, bleibt der Effekt aus. Wenn man sie zu lange einwirken lässt, verbrennt die Kopfhaut. Zu Hause selbst zu glätten ist schwierig und riskant. Also muss man jede oder zumindest jede zweite Woche einen Profi aufsuchen.

«Wer an­fängt zu glätten, wird zur Sklavin des Salons», sagt Yvette. Aber vielen Frauen ist es die Mühe wert. Denn das Ergebnis sind glatte, seidig glänzende Haare. Wie Beyoncé Knowles, Tyra Banks und Michelle Obama sie tragen. Haare, wie die Weissen sie haben.

Mit den Menschen, die Afrika verlassen, emigriert auch die Haarfrage in andere Teile der Welt. Salons für afrikanische Haare gibt es nicht nur in Nairobi, es gibt sie in Baltimore, in Lyon, in Frankfurt, in Zürich. Überall werden die gleichen Glättungscremes aufgetragen und ähnliche Perücken und Extensions verkauft.

Schwarze Menschen, die ihr krauses Haar zeigen, sind noch immer eine Seltenheit. Man hält sie für Drogensüchtige, politische Aktivisten oder im besten Fall für Künstler. Als die schwarze Wettermoderatorin Rhonda Lee sich im Dezember 2012 auf Facebook gegen Beleidigungen ihrer Frisur verteidigte, wurde sie von ihrem Sender ABC in Louisiana gefeuert. Als Bill de Blasio Bürgermeister von New York werden wollte, nutzte sein Wahlkampfmanager die Afrokrause seines Sohnes Dante, der eine afroamerikanische Mutter hat, um den Vater als progressiven Politiker zu positionieren. Viele Kommentatoren hielten die Strategie für riskant, da der Afro in den Augen Weisser noch immer ein Zeichen schwarzer Aggression sei. De Blasio ge­wann – auch weil er die Afroamerikaner auf seiner Seite hatte. Als Barack Obama als erster Schwarzer für das Amt des Präsidenten kandidierte, veröffentlichte die Zeitschrift «The New Yorker» eine Titelgeschichte darüber, wie seine Gegner versuchten, ihn als Terroristen zu verunglimpfen. Der Karikaturist zeichnete ihn im Taliban-Umhang mit Turban und Sandalen. Daneben steht Michelle Obama, mit Kalaschnikow und wilder Afrokrause.

Natürliche afrikanische Haare als Zeichen von Rückständigkeit, Kriminalität, Gefahr. So denken nicht nur die Menschen in Nairobi, so denken auch viele Weisse.

Wenn junge Afrikanerinnen wie Yvette gegen dieses Stereotyp ankämpfen, dann geht es nicht nur um verschiedene Interpretationen von Schönheit. Es geht auch um Rassismus, Identität und sehr viel Geld. Der afrikanische Markt für Kosmetik- und Hygieneprodukte hat laut der Unternehmensberatung Roland Berger ein Volumen von 8,3 Milliarden Franken. Bis 2017 dürfte es auf 12,7 Milliarden Franken an­wachsen.

Haare bedeuten Identität

Yvette war neunzehn, als sie ihre Haare zum ersten Mal selbst gewaschen hat. Drei Jahre ist das her. Sie hatte keine Lust mehr, jede zweite Woche in den Haarsalon zu gehen, um sich Kunsthaar einflechten zu lassen. Warum kann ich nicht einfach meine eigenen Haare tragen?, fragte sie sich. An einem Freitagabend entfernte sie die Kunsthaarzöpfe, stellte sich unter die Dusche und massierte sich – zum ersten Mal überhaupt.

«Der nächste Tag war der schlimmste meines Lebens», sagt Yvette. Als sie aufwachte, waren ihre Haare verknotet und standen in alle Richtungen vom Kopf ab. Sie hatte sich selbst nie zuvor mit Afrokrause gesehen – ausser im Haarsalon, wo immer jemand in der Nähe ist, um das Problem zu lösen. Am liebsten wäre sie sofort zum Coiffeur gegangen. Aber sie musste in die Schule. Die Blicke der Mitschülerinnen, alle mit geglätteten Haaren, Perücken oder Kunsthaarzöpfen, trafen sie wie Nadeln. Was ist mit dir los, bist du in den Regen gekommen?, wurde sie ge­fragt.

«Ich habe mich so unsicher gefühlt», sagt sie. «Ist das nicht verrückt? Ich war un­sicher, weil ich meine eigenen Haare getragen habe.» Der Busfahrer fragte frech: «Bist du auf dem Weg zum Haarsalon?» Als Yvette ein paar Monate später Praktikum bei einem Fernsehsender machte und sich weigerte, ihre Krause wie die anderen Mo­deratorinnen unter einer Perücke zu verstecken, durfte sie nicht vor die Kamera. Natürliche Haare seien nicht adäquat für eine Nachrichtensendung, hiess es. Trotzdem fasste sie den Entschluss: Ich bin Afrikanerin, und ich stehe dazu!

«Alles, was ich auf meine Haare tue, kann ich essen», sagt Yvette. Sie steht in der Küche und kocht Wasser. Afrikanische Haare müssen sorgfältig gepflegt werden. Wegen der Zickzackform dringt das Fett von der Kopfhaut nicht bis in die Spitzen vor, die Haare werden trocken und brechen leicht. Grosse Kosmetikkonzerne bieten kaum Produkte für natürliche Haare an, deshalb muss Yvette sie selbst anrühren. Auf der Arbeitsfläche vor ihr steht eine kleine Glasschüssel. Kokosnussöl ist bei Zimmertemperatur hart, also erhitzt sie es zuerst im Wasserbad. In die Haarspülung aus dem Supermarkt mischt sie Olivenöl, das ist dem körpereigenen Fett am ähnlichsten, dann Rizinusöl, das verhindert, dass Haare brüchig werden, und für den Duft Rosenöl. Aus dem Kühlschrank holt sie Aloe-Vera-Saft, der spendet Feuchtigkeit, giesst einen Schluck in die Schüssel, rührt mit dem Löffel, bis die Masse cremig wird.

Am Abend wird sie die Emulsion auf den Haaren verteilen. Dann wird sie sich ein Seidentuch um den Kopf wickeln, denn Seide hält die Feuchtigkeit im Haar, statt sie wie Baumwolle aufzusaugen. Am Morgen wird sie die Strähnen nur mit den Fingern ordnen, statt sie mit Kamm oder Bürste zu frisieren. Denn Kämmen ziept und bricht die Haare.

All das hat sie sich selbst beigebracht. Sie hat Youtube-Videos aus den USA ge­schaut, von Naptural85, Kimmaytube und 4cHairChick. Sie hat Blogs gelesen, wie etwa «Na­turally Curly» und «Black Girl Long Hair», geschrieben von schwarzen Amerikanerinnen. «In den USA ist der Trend zum natürlichen Haar viel weiter», sagt Yvette. «Die Afroamerikanerinnen setzen sich wegen ihrer Geschichte als ehemalige Sklaven der Weissen intensiver mit ihrer Identität auseinander als wir Afrikanerinnen. Und Haare sind zentral für unsere Identität.»

Die Afrokrause war das Markenzeichen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre. Malcolm X hat in seiner Biografie schwarze Amerikaner dazu aufgerufen, zu ihren natürlichen Haaren zu stehen. Der «Fro», wie die Frisur auch ge­nannt wird, war zentrales Element der «Black is beautiful»-Bewegung.

Yvette findet es ironisch, dass die besten Blogs über natürliche Haare heute von Westlerinnen geschrieben werden. Aber langsam erfasst der Trend auch Afrika. Es entsteht eine Bewegung der natürlichen Haare, eine «natural hair movement», eine neue Frauenbewegung. Zwei von zehn Frauen in Nairobi tragen inzwischen ihre echten Haare. Genauso in anderen afrikanischen Metropolen, in Johannesburg, Accra, Lagos. Männer haben es einfach: Sie umgehen das Problem, indem sie sich den Schädel rasieren.

Yvettes Mutter, eine gebildete, weltgewandte Frau der Oberschicht, hat jahrelang ihre Haare geglättet. Bis in die Siebzigerjahre trugen die meisten Afrikanerinnen natürliche Haare, so auch Yvettes Grossmutter. Dann kamen plötzlich neue Produkte auf den Markt. Zuerst Kunsthaare, die als lange schmale Zöpfe in die natürlichen Haare eingeflochten werden. Dann Perücken und Extensions, Haarverlängerungen, die man an die natürlichen Haare anklebt. Und dann Glättungsmittel.

«Wir alle haben unsere Haare geglättet», sagt Yvettes Mutter. «Dadurch waren sie einfacher zu pflegen. Wir wussten noch nicht, wie schädlich die Produkte sind.» Die neue Mode war Ausdruck von Wohlstand und Modernität. Bald trugen nur noch diejenigen Frauen Afro, denen die regemässigen Besuche im Haarsalon zu teuer waren.

Heute sind Perücken, Extensions und geglättete Haare keine Frage des Portemonnaies mehr. Alle – selbst die Slumbewohnerinnen – können sich das leisten. Frauen, die ihre Haare natürlich tragen, tun es nicht aus Geldmangel, sondern weil sie sich bewusst dafür entscheiden.

«Die weissen Unterdrücker haben den Trend der glatten Haare gestartet, um die Schwarzen zu demütigen», sagt Yvette. «Es ist eine sehr traurige Geschichte.» Vielleicht wird sie einen Blogeintrag darüber schreiben. Ab dem 16. Jahrhundert, als die Weissen begannen, in Amerika Schwarze als Sklaven zu halten, galten dunkle Haut und krause Haare als minderwertig. Die Sklavenhalter bestraften ihre Leibeigenen, indem sie ihren Kopf in den Waschtrog drückten. Die Seifenlauge brannte in den Augen, verätzte die Haut, aber sie hatte noch einen Effekt: Sie machte die Haare glatt. Die Schwarzen merkten, dass ihre weissen Herren diejenigen von ihnen be­vorzugten, die hellere Haut und glattere Haare hatten. Und weil sie von ihnen ab­hängig waren, begannen sie, ihre Haare freiwillig in die Lauge zu tauchen.

So jedenfalls erzählt man es sich. Vielleicht war es auch anders. Vielleicht haben die Sklaven beim Waschen der Kleider auch selbst herausgefunden, dass die alkalische Brühe ihre Haare glatt macht. Gesichert ist: Im Jahr 1913 brachte C. J. Walker, eine Tochter ehemaliger Sklaven, die erste Glättungscreme auf den amerikanischen Markt. Basierend auf Lauge. Das Produkt war so erfolgreich, dass sie die erste afroamerikanische Millionärin wurde.

Yvettes Mutter trägt heute Dreadlocks – eine traditionelle afrikanische Frisur. «Noch vor fünf Jahren hätten die Leute mich für einen kiffenden Freiheitskämpfer gehalten», sagt sie. Nie hätte sie mit solch einer Frisur ins Büro gehen können. Aber sie beobachtet, dass die Stimmung dreht.

«Lange Zeit haben wir blind westlichen Schönheitsidealen nachgeeifert. Weil der Westen für uns Zivilisation bedeutete. Jetzt lernen wir langsam, Schönheit auch in afrikanischem Aussehen zu erkennen», sagt sie. Es hat sie überrascht, wie viele Reaktionen der Blog ihrer Tochter ausgelöst hat. Freundinnen riefen sie an und fragten: «Das ist ja deine Tochter! Ich will auch so eine Frisur. Wie macht sie das?»

In den 1980er-Jahren war ein Afro ein Afro. Ein Helm aus Wolle, wie die Bürgerrechtlerin Angela Davis ihn trug. Heute gibt es zig verschiedene Arten, wie man seine natürlichen Haare tragen kann. Yvette macht von jeder Frisur ein Foto und veröffentlicht es auf ihrem Blog.

Frauen wie Yvette tauschen sich aus in der geschlossenen Facebook-Gruppe The Curly Diaries. Die Gruppe hat 1500 Mitglieder – die meisten von ihnen leben in Nairobi. Geschlossen ist die Gruppe, weil nur Frauen dabei sein sollen, die ernsthaft an die «Bewegung der natürlichen Haare» glauben. Wer sich längere Zeit nicht online an der Diskussion beteiligt, wird rausgeworfen, und der Platz wird neu vergeben. Eine der Administratorinnen ist Susan Kinuthia. Sie ist dreissig Jahre alt, hat zwei kleine Kinder, arbeitet in einer Werbeagentur und sagt über ihre Ehe: «Ich bin nicht auf meinen Mann angewiesen, ich verdiene selbst genug.»

Susan lebt in South B, dem Stadtteil der aufstrebenden Mittelklasse von Nairobi. Die Strassen sind staubig, krumme Obststände drängen sich an die Hauswände, aber in den Höfen der mehrstöckigen Wohnhäuser parkieren schwarze BMWs. Hier wohnt das neue afrikanische Bürgertum.

Es ist Sonntag, Susan hat drei Freundinnen eingeladen. Sie haben Pilau und Kachumbari, ein Reisgericht und Tomatensalat, zu Mittag gegessen, jetzt richtet Susan ihren privaten Salon her. «Sonntag ist mein Haartag», sagt sie. Auf dem Balkon steht ein Waschbecken wie beim Coiffeur, an der Wand hängen Handtücher, ein paar Plastikstühle stehen herum, in der Ecke lehnt ein grosser Spiegel.

Bevor sie mit dem Styling anfangen, wollen Susan und ihre Freundinnen auf der Strasse ein paar Zutaten einkaufen. Am Tor zögert eine, die ihren Dutt bereits ge­löst hat und deren Haare wild vom Kopf abstehen. «Jetzt verlasse ich meine Komfortzone», sagt sie unsicher. Sie hatte nicht geplant, noch einmal auf die Strasse zu gehen. Nun hat sie das Gefühl, alle würden ihren Afro anstarren.

«Bananen und Avocado benütze ich als Kur, genauso Mayonnaise», erklärt Susan am Obststand. Sie verwendet – wie Yvette – fast nur natürliche Produkte, um ihre Haare zu pflegen und zu stylen. Essig eignet sich, um die Haare zu reinigen. Honig macht sie weich. Joghurt spendet Feuchtigkeit. Aufgequollene Leinsamen, durch ein Tuch gepresst, haben den gleichen Effekt wie Gel. Alle diese Informationen teilt Susan in der Facebook-Gruppe.

Wenn sie im Forum ein Shampoo empfiehlt, das neu im Supermarktregal steht, ist es nach zwei Tagen ausverkauft. Mitglieder, die sich gerade erst entschieden haben, ihre Haare zu tragen, werden ermutigt: «Sieht toll aus, weiter so!»

«The natural hair journey», die Reise zu den natürlichen Haaren, nennen sie es. Kürzlich haben sie eine Party veranstaltet. Zweihundert weibliche Gäste waren da. Das Fernsehen drehte einen Beitrag. Es war schon die dritte Party dieses Jahr. Nächsten Monat werden die vier Administratorinnen nach Mombasa reisen, um sich mit den Mitgliedern, die an der Küste leben, zu vernetzen.

Zurück auf dem Balkon, teilt Susan die Haare ihrer Freundin in wuschelige Strähnen und bindet sie zu kleinen Pinseln ab. «Sag Bescheid, wenn es wehtut, dann mache ich es lockerer», sagt sie. «Ich will dir kein Kenyatta-Markt-Lifting verpassen.» Der Kenyatta-Markt ist ein schmutziges Labyrinth aus Metzgereien und Haarsalons und der bekannteste Ort in Nairobi, um sich Kunsthaare einflechten zu lassen. Hier sitzen die Kundinnen mehrere Stunden lang auf dem Stuhl, bestellen Grillfleisch, während drei, vier Mitarbeiterinnen gleichzeitig dünne Zöpfe flechten. Viele ziehen dabei so fest, dass die Kundinnen mit dem Gefühl nach Hause gehen, ihr Kopf klemme in einem Schraubstock. Die ge­spannte Kopfhaut zieht die Augenbrauen nach oben und macht Lachen unmöglich. «Schluck eine Schmerztablette», raten dann die Salonbesitzerinnen.

Susan und ihre Freundinnen betreten seit Jahren keine Haarsalons mehr. «Wenn wir durch die Tür kommen, sehen die Frauen unsere krausen Haare, und das Erste, was sie tun: Sie greifen nach dem Föhn. Sie wollen unsere Haare glätten, damit sie anfangen können, damit zu ar­beiten. Sie wissen einfach nicht, wie sie mit unserem störrischen Haar umgehen müssen», sagt sie. «Und sie haben auch keine Geduld, es zu lernen.» Susan und die drei anderen Administratorinnen haben den Namen Curly Diaries bereits schützen lassen.

Sie planen, demnächst eigene Salons zu eröffnen. Susans Balkon ist eine Art Pilotprojekt.

Sie alle haben den Haaransatz von Naomi Campbell gesehen. Das Supermodel der 1990er-Jahre, die schwarze Exotin auf den Laufstegen in Paris, Mailand und New York, hat während ihrer ganzen Karriere die Haare geglättet und Verlängerungen oder Perücken getragen. Heute zeigen sich die Folgen: Campbells Ansatz hat sich nach hinten verschoben, drei Zentimeter breit sind ihr die Haare ausgefallen. So geht es vielen Frauen mit Anfang, Mitte vierzig. Wer über Jahrzehnte hinweg glättet, muss mit schlimmem Haarausfall rechnen.

Die Entscheidung, sein Haar natürlich zu tragen, ist auch eine Entscheidung für die Gesundheit.

Modemagazine und Werbung reagieren auf das neue afrikanische Selbstbewusstsein. Zeitschriften wie «Forbes Wo­­man» und «New African Woman» zeigen Frauen in Ethno-Klamotten und mit krausen Haaren. Die moderne afrikanische Frau ist keine Barbie mehr mit langen, glatten Haaren und heller, milchkaffeefarbener Haut. Sie ist erfolgreich, dunkel und trägt Afro. Die kenianische Schauspielerin Lupi­ta Nyong’o, die den Oscar für ihre Ne­ben­rolle in «Twelve Years a Slave» ge­wonnen hat, verkörpert diesen neuen Typ Frau. Sie zeigt ihre natürlichen Haare, wenn auch kurz. Und ist das neue Werbegesicht des Kosmetikherstellers L’Oréal. Als erste Schwarze überhaupt. Nach Julia Roberts, Kate Winslet, Lily Collins, Penélope Cruz.

Schwarze Frauen sind für die Kosmetikindustrie wichtige Kundinnen – und sie werden immer wichtiger. 300 Millionen Menschen gehören heute der afrikanischen Mittelschicht an, bis 2060 werden es eine Milliarde sein. Und lange war klar, was die Frauen wollten: möglichst helle Haut und langes, glattes Haar. Das ändert sich nun. In den USA brachen die Verkaufszahlen für Glättungscreme im letzten Jahr drastisch ein: Die Hersteller verloren laut dem Marktforschungsinstitut Mintel ein Viertel ihres Umsatzes.

In Afrika glättet zwar noch die Mehrheit der Frauen, aber langfristig ist mit derselben Entwicklung zu rechnen wie in den USA. Was also will die Kundin in Zukunft?

L’Oréal ist die grösste Kosmetikfirma der Welt und die Glättungscreme «Dark and Lovely» ihr wichtigstes Produkt auf dem afrikanischen Markt. Seit zwei Monaten hat L’Oréal East Africa mit Sitz in Nairobi einen neuen Chef, den Belgier Philippe D’Have, einen weissen Mann. Nach acht Wochen im Amt fühlt er sich nicht in der Lage, ein Interview zu geben. Er sei noch nicht ausreichend eingearbeitet, lässt er durch die Pressestelle in Paris ausrichten. Afrikanische Haare als schwer zu durchdringendes Mysterium.

Auskunft geben kann nur eine Mitarbeiterin am Hauptsitz in Paris, Virginie Rouchier. «Die afrikanischen Frauen haben sehr viele verschiedene Frisuren, das müssen wir verstehen», sagt sie am Telefon. Bei einer Reise durch Südafrika und Kenia war sie überrascht festzustellen, dass viele sogar unter ihrer Perücke die Haare geflochten haben. Natürliche Haare? Hat sie kaum gesehen. Es sei wichtig für die afrikanischen Frauen, dass sie ihre Haare besser managen können. Zu glätten sei von Vorteil, selbst wenn man nachher flicht.

Ob das Glätten schädlich ist? «Nein, natürlich nicht, sonst würden die Frauen es ja nicht machen.»

Kosmetikindustrie springt auf

Am Samstagabend ist Nina Dunn, 37 Jahre alt, mit Freundinnen in ihrem Lieblingsrestaurant verabredet, dem «Talisman». Nina trägt ein buntes Sommerkleid mit dünnen Trägern und grosse, afrikanische Ohrringe. Sie hat in England Jus studiert, in Deutschland bei der UNO gearbeitet und in China Sprachunterricht gegeben. Seit der Geburt ihrer Tochter arbeitet sie als persönliche Fitnesstrainerin. Ihr Mann, ein Schotte, leitet eine internationale Schule. Sie ist keine, die ihre Avocado selbst mixt, dafür hat sie keine Zeit.

Mit ihren Freundinnen will sie auf den ersten Geburtstag ihres Blogs «My Big Fat Afro» anstossen. Es ist eine der meistgelesenen Websites zum Thema natürliches Haar in Nairobi. Zu fünft sitzen sie unter hohen Bäumen, auf den Bänken liegen orientalische Kissen. Es gibt Fusion Food, die Preise bewegen sich auf dem Niveau von New York. Alle tragen ihr Haar natürlich. Die Frauen nippen an ihren Cocktails mit Erdbeerscheiben auf dem Rand und dippen Teigtaschen in eine süsse, rote Chilisauce.

Nina und ihre Freundinnen bestellen ihr Shampoo online in den USA oder lassen es sich von Bekannten von dort mitbringen. Afroamerikanerinnen haben in den letzten Jahren spezialisierte Kosmetikfirmen gegründet. Sie verwenden nur natürliche Inhaltsstoffe. «In Kenia gibt es kaum gute Produkte für unser Haar», sagt Nina. Dabei wäre sie bereit, Geld auszugeben.

Wenn sie im Supermarktregal die Glättungscremes sieht, die sogar schon für Kinder angeboten werden, ärgert sie sich. Von der lilafarbenen Verpackung lächelt ein kleines Mädchen mit glattem Haar, «Beautiful Beginnings» verspricht der Hersteller L’Oréal. Nina misstraut den grossen Konzernen. Weil sie jahrzehntelang ihre Gewinne mit Glättungscreme gemacht haben. Eine Werbekampagne, mit der kürzlich ein neues Produkt als natürlich beworben wurde, erboste sie so, dass sie einen Blogeintrag schrieb mit dem Hashtag #MarketingHeadsShouldRoll.

Vor vier Monaten bekamen Nina und ihre Freundinnen einen überraschenden Besuch. Vier weisse Männer in Anzügen klingelten an der Wohnungstür, sie wurden begleitet von muskulösen, schwarz gekleideten Riesen. Eine Bekannte aus der Kosmetikbranche hatte das Treffen arrangiert. Experten aus der Industrie, hiess es, die sich für natürliches Haar interessieren. Nina und ihre Freundinnen geben grundsätzlich gern Auskunft. Sie wissen, dass sie den Forschungslabors und Marketingabteilungen der grossen Konzerne um Jahre voraus sind.

Die Herren setzten sich in der Stube aufs Sofa und stellten viele Fragen. Wie oft waschen Sie Ihre Kopfhaut? Welche Produkte kaufen Sie? Wie viel geben Sie aus? Was vermissen Sie im Supermarkt? Entschuldigung, dürfen wir die Haare mal anfassen?

Nachdem die Männer gegangen waren, googelte Nina die Namen auf den Visitenkarten. Sie staunte nicht schlecht: Es waren hochrangige Manager eines US-Konzerns, der Haarprodukte herstellt. Nun verstand sie, warum die schwarz gekleideten Typen sich nicht hatten setzen wollen. Es waren Bodyguards.

Die Frauen bestellen eine weitere Runde Drinks. Inzwischen ist es dunkel geworden, der Kellner bringt eine Kerze. Nina zieht ihre Jeansjacke über. Eine ihrer Freundinnen am Tisch stellt ihre eigene Haarpflege aus Sheabutter her und vertreibt sie übers Internet. In den nächsten Monaten soll es einen Relaunch geben. «Fällt euch ein guter Name ein?», fragt sie. Eine von ihnen wird das Design übernehmen, die anderen werden das Produkt testen.

«In zwei Jahren verkaufe ich meine Butter an L’Oréal», ruft die Gründerin. «Ich spekuliere auf zwei Millionen Dollar, an eurer Stelle würde ich mir rechtzeitig An­teile sichern!» Die Frauen lachen und klatschen die Hände aneinander, high five.