85 Sekunden Wahnsinn

Erschienen in DAS MAGAZIN, 30. April 2016

Ein Taxi rast mit 125km/h durch den Zürcher Bubenholztunnel. Auf der Motorhaube krallt sich ein Mann fest. Warum? Rekonstruktion einer Amokfahrt

Dies ist eine wahre Geschichte – wenn auch eine, die sich aus verschiedenen Wahrheiten zusammensetzt. Jeder erzählt sie anders: die beiden Kontrahenten, die Zeugen, die Spuren-sicherung. Verbürgt ist nur ihr Ende: Quetsch- und Schürfwunden, Knochenbrüche, eine zertrümmerte Windschutzscheibe, ein konfiszierter Fahrausweis und eine Anklage wegen versuchter vorsätzlicher Tötung.

Es war gegen halb acht Uhr abends am 13. August 2014, Taxifahrer Josef S. hatte einen Fahrgast vom Hotel Baur au Lac zum Flughafen in Kloten chauffiert, seinen schwarzen Skoda Superb vor Terminal 2 gestoppt, den Koffer auf den Bordstein gehievt, seinem Fahrgast einen guten Flug gewünscht und beschlossen, seinen Dienst für heute zu beenden.

S. ist 65 Jahre alt, alleinstehend und hat einen tschechischen Pass. Er sucht gern Pilze und füllt jede Woche den Lottoschein aus – den deutschen, weil der Jackpot höher ist. In den 35 Jahren, die S. in Zürich als Taxifahrer gearbeitet hat, hat er nicht eine einzige Verkehrsbusse kassiert. Nun wollte er nach Hause fahren. In seiner 1,5-Zimmer-Wohnung in Zürich-Enge nahe dem Museum Rietberg würde er wie jeden Abend die Fahrtenbelege in einen Ordner heften, etwas kochen und dann die Zeitungs-artikel lesen, die er im Laufe des Tages zur Seite gelegt hatte. Und am nächsten Morgen würde um 7.53 Uhr der Radiowecker losgehen, Radio 24, wie immer.

Cengiz E. trifft auf Josef S.

Aber es kam anders. An der Autobahnzufahrt Werft, vier Kilometer vor Zürich, verkeilte sich gegen Viertel vor acht das Schicksal von Josef S. mit dem von Cengiz E.

Der 30-Jährige lebte in der Nähe von Frankfurt und war wegen der Leichtathletik-Europameisterschaften als Chauffeur in der Schweiz unterwegs. Seine Aufgabe bestand darin, Profisportler in einem schwarzen Mercedes-Viano-Kleinbus mit abgedunkelten Scheiben und Berliner Nummernschild von A nach B zu kutschieren. Cengiz E., Sohn türkischer Gastarbeiter, macht viel Sport, am liebsten Klettern und Fussball. Noch immer wird er nostalgisch, wenn er an sein erstes Auto denkt, einen Nissan Micra, Baujahr 1992, den er sich ein paar Tage nach seinem achtzehnten Geburtstag kaufte. Alles mechanisch, ohne elektronischen Schnickschnack.

Nach dem einzigen Autounfall seines Lebens, jemand parkte unvorsichtig aus und rammte ihm eine Delle in den Kotflügel, hatte er gemeinsam mit seinem Vater das Karosserieteil auf dem Schrottplatz ersetzt – in Rot, weil sie kein schwarzes fanden – und dann auf dem Blech mit wasserfestem Filzstift unterschrieben. Wenn er zu McDonalds geht, dann isst er einen Big-Rösti-Burger.

An diesem Augustabend fuhr E. den Mercedes-Kleinbus Richtung Zürich-City, um einen verspäteten Koffer im Athletenhotel abzuliefern, den er zuvor bei der Gepäckausgabe des Flughafens abgeholt hatte.

Die technische Auswertung des Taxitachometers wird später belegen, dass Taxifahrer Josef S. mit Tempo 60 Richtung Autobahn A51 unterwegs war, bei einer erlaubten Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h. «Ich fuhr gemütlich in meiner Spur», wird er später sagen. Die Strasse machte eine Rechtskurve, und ein Schild zeigte die neue Höchstgeschwindigkeit 100 an. S. trat aufs Gaspedal und beschleunigte auf 80.

E. war auf derselben Autobahnzufahrt unterwegs. Als weisse Pfeile vor ihm auf dem Asphalt darauf hinwiesen, dass seine Spur enden würde, setzte er an, auf die linke Fahrbahn zu wechseln. «Ich blinke, schaue in den Aussenspiegel, wie ich das immer mache – keiner da», sagt E. heute. Beim nächsten Blick in den Spiegel habe er plötzlich ein Taxi gesehen. Es wurde rasch grösser, offenbar beschleunigte es. Vor E. endete die Spur, links war das Taxi. Was sollte er tun? Er habe das Lenkrad wieder nach rechts gerissen, das Bremspedal durchgetreten, aber es sei zu spät gewesen. Er habe die zwei Leitbaken überrollen müssen, die das Spurenende markieren, schwarz-weiss schraffiert, aus Kunststoff, einen Meter hoch. «Das ruckelt, als ob man über einen unbefestigten Feldweg fährt», sagt er.

Mitarbeiter des Forensischen Instituts Zürich untersuchen später die Stossstange des Kleinbusses mit Klebebandabzügen auf Kunststoffpartikel der Leitbaken – ohne eindeutiges Ergebnis. «Aus spurenkundlicher Sicht können wir einen Kontakt zwischen dem Kleinbus BRS 7806 (D), Mercedes, schwarz, und der Leitbake nicht belegen», heisst es im Bericht. Ein solcher Kontakt könne allerdings auch nicht ausgeschlossen werden.

Hat E. sich die Kollision eingebildet? Seine Wut jedenfalls war echt. Ihm schien, der andere habe ihn abgedrängt.

Cengiz E. hätte sich jetzt sagen können, dass Autofahren Ärger bedeutet, und sich dann selbstkritisch eingestehen: Ich habe einen Fehler gemacht, ich hätte mich hinter dem Taxi einordnen müssen. Aber E. findet, im Strassenverkehr zählen nicht nur Regeln und Schilder, sondern auch der gesunde Menschenverstand. Er findet, es müsse ein Miteinander sein – kein Gegeneinander.

Deshalb erboste ihn, dass der Taxifahrer nicht das Reissverschlussprinzip anwendete, wie E. es erwartet hatte. Vielleicht war an seinem Kleinbus ein Schaden entstanden, und in diesem Fall trüge der Taxifahrer, der sich «nicht freundlich und nicht korrekt» verhalten habe, eine Mitschuld. Überall gibt es Besserwisser und Rabauken – damit hatte E. sich abgefunden. Aber die Zürcher waren ihm schon immer besonders egoistisch erschienen, sie drängelten, hupten wegen Nichtigkeiten und überfuhren Zebrastreifen, ohne zu bremsen.

Rechts überholen, Warnblinklicht, Handzeichen

Cengiz E. wollte den Unfall – um nichts Geringeres handelte es sich in seinen Augen – klären. Er spurte sich hinter dem Taxi ein, bis rechts die Autobahn ins Blickfeld rückte. Er würde den Taxifahrer zur Rede stellen. Er gab Gas, überholte rechts, überfuhr dabei eine doppelt durchgezogene Linie, ein Regelverstoss, der ihm seiner Lage angemessen schien, und gelangte vor S. auf die linke Spur der Autobahn.

Als das Taxi im Rückspiegel auftauchte, schaltete er die Warnblinkanlage ein und setzte den Blinker. Bitte anhalten, wollte er damit sagen. Aber der Taxifahrer schien seine Aufforderung zu ignorieren. Also wechselte E. auf die rechte Spur, liess sich auf die Höhe des Taxis zurückfallen und signalisierte dem Fahrer mit Handzeichen, er solle rechts ranfahren.

Josef S. verstand nicht. Vielleicht wollte er auch nicht verstehen. Bis zu diesem Zeitpunkt, so erzählt S. die Geschichte heute, habe er den schwarzen Kleinbus gar nicht wahrgenommen. Auch die überfahrenen Leitbaken habe er nicht bemerkt. Warum nötigte der Fremde ihn, mitten auf der Autobahn anzuhalten (anders liessen die hektischen Gesten sich nicht interpretieren)? Es war absurd. Und verboten. Nicht einmal einen Pannenstreifen gab es in diesem Bereich. Er würde eine Massenkarambolage riskieren.

Angenommen, ein Pannenstreifen hätte existiert: Auch dann hätte S. wohl nicht angehalten. Er ist ein sturer Mensch, und auf der Strasse bedeutet das: Er befolgt die Vorschriften. Ohne Ausnahme. Seit 35 Jahren. Auch für den Pannenstreifen hätte es einen guten Grund gebraucht, und S. hatte keinen.

Strassenverkehr ist Krieg

Er versuchte, den schwarzen Kleinbus zu überholen, aber als er beschleunigte, beschleunigte auch der schwarze Kleinbus. Als S. auf die rechte Spur wechselte, zog auch der schwarze Kleinbus rechts rüber. «Er trieb seine Spielchen mit mir», sagt S. drei Monate später auf der Amtsstelle für Gewaltdelikte zum Staatsanwalt. «Es war Wahnsinn.»

Der Kleinbus bremste, die Rücklichter leuchteten rot, und S. musste das Bremspedal durchtreten, um mit seinem Taxi nicht gegen die Heckklappe des Mercedes zu knallen. Leicht versetzt kamen die beiden Wagen hintereinander auf der A51 bei Kilometer 3 zum Stehen. Schikanestopp, wird der Staatsanwalt dazu sagen. Mehrere Zeugen zeichnen später die Positionen der Autos auf Polizeifotos ein.

Cengiz E. stieg aus, suchte die Front des Kleinbusses nach einem Schaden ab, fand keinen, ging auf das Taxi zu und stellte sich vor dessen Stossstange. Ein bärtiger Südländer, 1,80 gross, wütender Blick.

Taxifahrer S. hätte jetzt auf das Gute im Menschen vertrauen und sich sagen können: Hier muss ein Missverständnis vorliegen, es wird sich lösen lassen. Aber S. war in den vielen Jahren hinter dem Steuer zur Überzeugung gelangt, dass der Strassenverkehr ein Kampf ist. Dass Menschen verschiedene Gesichter haben und auf der Strasse ihr schlechtestes zeigen. Autofahrer gegen Velofahrer, Fussgänger gegen Autofahrer, Autofahrer gegen Autofahrer. Unvorstellbare Aggressionen. Darum traute er sich auch immer erst um halb elf, nach der morgendlichen Rushhour, auf die Strasse. Manchmal brüllte ein Fahrgast ihn an, nur weil ihm der Preis überrissen erschien. Um diese Art Streit zu vermeiden, hatte er sich für einen gut sichtbaren, in den Rückspiegel eingebauten Taxameter entschieden. Jetzt packte S. die Angst. Er verriegelte die Türen und legte beide Hände aufs Steuer.

Inzwischen hatte sich auf der A51 hinter dem Taxi ein Stau gebildet, andere Autos umfuhren im Schritttempo die beiden Kontrahenten.

Auf dem Foto, das ein Zeuge aus dem Auto heraus mit dem Handy geschossen hat und das später als Beweisfoto diente, sieht man E.: schwarze Haare, schwarzer Bart, eine leichte schwarze Sportjacke, mit der Linken stützt er sich auf der Motorhaube ab, den rechten Zeigefinger reckt er in die Luft – den Blick auf die Windschutzscheibe des Taxis gerichtet.

«Der Mann schaute nicht besonders freundlich drein»

Roman E. und zwei Arbeitskollegen fuhren drei Autos hinter dem Mercedes-Kleinbus und dem Taxi, als sie «relativ abrupt ausgebremst» wurden. «Es sah dann schon recht bedrohlich aus, als der Mann ausstieg und vor dem Taxi stand», gab Roman E. in der Zeugeneinvernahme zu Protokoll. «Man sieht es ja auf dem Foto, der Mann war recht gross, schaute nicht besonders freundlich drein und hatte so den Zeigefinger in die Luft erhoben, wir haben uns im Auto auch überlegt, wie wir in so einer Situation reagieren würden.» Als Roman E. am folgenden Tag in der Gratiszeitung «20 Minuten» den Zeugenaufruf las, rief er bei der Kantonspolizei an. Er dachte, vielleicht könnte es wichtig sein, dass man auch den Anfang der Sache kennt. Vielleicht verschiebe das den Blickwinkel.

Josef S. wollte einfach weg. Weiterfahren. Er gab zögerlich Gas, und das Taxi rollte wenige Zentimeter auf die Knie von E. zu, bis die Stossstange sie berührte. E. machte einen Schritt zurück.

Cengiz E. hätte jetzt die Lebensgefahr erkennen können, der er sich mitten auf der Autobahn aussetzte. Er hätte das Nummernschild fotografieren, wieder in sein Auto steigen und weiterfahren können. Aber E. sah nicht den heranbrausenden Feierabendverkehr. Er sah nur den Taxifahrer, der seine Aufforderung auszusteigen ignorierte und ihn mit der Stossstange anstupste, um ihm zu signalisieren – so interpretierte E. es –, dass er der Stärkere war. Eine Machtprobe.

E. streckte die Arme seitlich aus, damit der Taxifahrer bloss nicht auf die Idee käme auszuscheren, und rührte sich nicht von der Stelle. Er würde den Weg nicht freigeben. S. gab Gas, diesmal mehr. 

Was dann passierte, beschäftigt die Strafbehörden noch heute, eineinhalb Jahre später. Es gibt zwei Versionen: Er sei auf die Motorhaube gekippt, sagt E., habe sich auf die Ellenbogen gestützt und mit den Händen in den Schlitz zwischen Motorhaube und Windschutzscheibe gefasst, um sich abzufangen. Aus der Perspektive von S. sah es anders aus: E. habe ihm die Arme entgegengestreckt, habe auf die Haube gegriffen und sei hochgeklettert. Wie freiwillig E. auf die Motorhaube zu liegen kam, wird sich nie klären lassen. 

«Dann bin ich losgefahren», sagt S. Nun begann, was den Reporter des «Blick» später zur Wortschöpfung «Amok-Taxi» inspirierte.

S. gab Gas und umfuhr den schwarzen Kleinbus. «Mein Gedanke war: Weg. Einfach nur weg!», sagt er. Er beschleunigte nahezu maximal, wie die Auswertung der Tachoscheibe zeigen würde: Auf den ersten 8 Metern auf 19 km/h, auf den folgenden 18 Metern auf 46 km/h. Nach 100 Metern hatte er bereits ein Tempo von 77 km/h erreicht.

E. suchte auf der Motorhaube einen besseren Griff und bekam den Scheibenwischer zu fassen. Der Scheibenwischer riss ab, E. erkannte seine Chance. «Vielleicht kann ich seine Sicht einschränken, damit das Taxi langsamer fährt. Vielleicht kann ich sogar ins Innere des Autos gelangen. Zu ihm vordringen!», habe er gedacht. Die linke Hand fest am Rand der Motorhaube, den rechten Arm angewinkelt, den Scheibenwischer mit der Faust umklammernd, prügelte E. auf die Windschutzscheibe ein. Glas splitterte. Risse überzogen die Scheibe wie Fäden eines Spinnennetzes. Und S. verlangsamte seine Fahrt.

Für E., der bäuchlings auf der Motorhaube lag und sich an deren oberer Kante festklammerte, wurde die Lage noch gefährlicher. Durch den Ruck glitt er zur Seite, sein Fuss schleifte über den Asphalt. «Bei dem Bremsmanöver bin ich nach vorn gerutscht und habe den linken Schuh verloren», sagt E. in der Konfrontationseinvernahme. Die Fahrtgeschwindigkeit betrug noch immer 46 km/h. Der Turnschuh, Marke Nike, Grösse 42,5, schwarz-hellgrün, wurde später von einem Kantonspolizisten auf dem Pannenstreifen der A51 Höhe Kilometer 2.7 sichergestellt. «Das war für mich ein Schockmoment, dass ich unter das Auto hätte geraten können», sagt E. 

Die Unfallchirurgen des Universitätsspitals diagnostizierten nach seiner Einlieferung erhebliche Schürfverletzungen am linken Fuss. Als habe man Styropor über Asphalt gerieben. E. krallte sich weiter fest, um nicht herunterzufallen. S. hätte jetzt den Irrsinn erkennen und den Wagen stoppen können, um E. die Gelegenheit zu geben, von der Motorhaube zu steigen. Noch wäre eine Einigung möglich gewesen.

E. wird später sagen, damit wäre die Sache für ihn erledigt gewesen. Eine Begleichung der Arztkosten und des eventuellen Karosserieschadens, das hätte er gefordert, sonst nichts. Er wäre zu seinem Auto zurückgehumpelt und hätte sich um den Koffer gekümmert.

Aber Josef S. konnte nicht mehr klar denken. Nie in seinem Leben hatte er solche Angst verspürt. Nicht während seiner Interrail-Reise mit 19, als der Prager Frühling ausbrach und er nicht mehr in seine Heimat, die Tschechoslowakei, zurückkehren konnte. Nicht, als er sich eines Nachts in der jemenitischen Wüste verirrte und erst am nächsten Tag auf Nomaden traf. Für das, was er durch die Scheibe auf der Motorhaube sah, fehlen ihm die Worte. Er hebt, wenn er sich erklären soll, beide Hände, spannt sie zu Krallen an, verzerrt seine Mundwinkel und funkelt furchterregend mit den Augen. Oft verirrt er sich in seinen eigenen Sätzen und bricht mitten in der Erzählung ab. Auch nach Jahrzehnten in der Schweiz sind seine sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten begrenzt.

Klar ist: Er hatte Panik, und er wollte nur eins: den Angreifer loswerden. Abschütteln.

Er hämmerte gegen die Windschutzscheibe

Josef S. beschleunigte wieder und begann, wilde Schlangenlinien zu fahren. E. warf den verbogenen Scheibenwischer weg und riss den zweiten ab.

S. raste mittlerweile mit Tempo 125 über die Autobahn. Auf der Motorhaube herrschte Windgeschwindigkeit Stufe 12. Das Maximum auf der Beaufortskala. Es bedeutet: Orkan.

Aber E. geht dreimal in der Woche bouldern, akrobatisches Klettern am Überhang, er hat viel Kraft in den Fingern. «In Extremsituationen funktioniere ich am besten», sagt er, und es klingt und stolz verwundert zugleich. Mit dem zweiten Scheibenwischer hämmerte er erneut gegen die Windschutzscheibe, «wie ein Bekloppter», sagt er heute. Die Scheibe sah mittlerweile aus wie nach einem heftigen Steinschlag. 

Acht Zeugen werden später befragt. Anita B. war in ihrem Suzuki Alto auf dem Weg nach Hause, als sie das Taxi mit dem Mann auf der Haube vor sich auf der linken Spur bemerkte.

«Ich dachte mir: Ui, was machen die? Das sieht ja aus wie James Bond oder ‹Trainspotting›. Ich dachte, die machen Blödsinn, und merkte dann aber, dass das kein Blödsinn war.»

Der Augenzeuge Bruno M. fuhr mit seinem Töff erst neben dem Taxi und dann hinter ihm. «Ich sah die Beine des Mannes rechts vom Taxi runterhängen. Sie spickten aber wieder rauf, als das Taxi eine Schwenkbewegung machte», gab er zu Protokoll. «Ich dachte: Wenn der runterfällt, ist er tot.»

Und dann kam der Tunnel.

Mit E. auf der Haube fuhr S. voll Karacho in den Bubenholztunnel. 600 Meter, drei Spuren, an der Decke zeigt ein blaues Leuchtschild die Ausfahrt Richtung Wallisellen/Oerlikon an. Die Auswertungen des Fahrtenschreibers sind in diesem Bereich nicht brauchbar, weil die Maximalgeschwindigkeit, welche der Fahrtenschreiber aufzeichnen kann, überschritten war. Die Forensiker mussten das Tempo mithilfe von Strecke und Zeit berechnen: S. fuhr noch immer mindestens 125 km/h, vielleicht auch 140 km/h.

Reto M., der mit seiner Freundin vom Flughafen kam, es war etwa 19.45 Uhr, beobachtete, wie das Taxi, nachdem es den Tunnel passiert hatte, extreme Zickzackbewegungen über die ganze Fahrbahn machte. «Es war wie in einem Actionfilm, man kann sich das gar nicht richtig vorstellen», sagte er bei der Befragung durch die Kantonspolizei. «Ich bin viel unterwegs, aber so etwas Schlimmes habe ich noch nie gesehen.»

Durch die Slalomfahrt war E. auf der Beifahrerseite von der Motorhaube gerutscht, sodass er jetzt seitlich am Auto hing, wie bei einem einarmigen Klimmzug. «Ich habe gespürt, wie der Reifen gegen meinen Po geschlagen hat, weil er immer noch die Rechts-links-Bewegungen gemacht hat, weil er mich loswerden wollte», sagt E. heute. Er habe dann über die Schulter nach vorn geschaut, den Scheibenwischer noch immer in der Hand, und die Gefahr kalkuliert.

«Vermutlich hätte ich es noch geschafft, wieder auf die Motorhaube zu klettern. Aber ich hab nur gesehen, wie der Herr S. plötzlich Richtung Leitplanke fährt, ich am Kotflügel hängend, dachte mir einfach nur: Quetscht er mich jetzt zwischen Auto und Leitplanke ein?»

E. schätzte den Abstand zu den folgenden Fahrzeugen als gross genug ein. Er wollte es versuchen. Er wollte abspringen. Das Problem, das sich ihm stellte: Wie würde er es schaffen, nicht vom Taxi überrollt zu werden? Er stemmte sich mit den Füssen gegen den Kotflügel. Wartete. Stiess sich ab.

«Kuller, kuller, kuller, einen Purzelbaum nach dem anderen geschlagen», sagt E. heute. «Mit dem Kopf einmal aufgeschlagen. Gedankengang: Na toll, das gibt eine Narbe. Kuller, kuller, wieder mit dem Kopf aufgestossen. Hach nee, das gibt eine zweite Narbe.» Mitten auf der Fahrbahn sei er liegen geblieben und habe dann versucht aufzustehen. Als das nicht klappte, sei er gekrabbelt, rüber auf den Pannenstreifen, hier gab es einen, und dort zusammengebrochen. «Ich will zurück zum Auto», sei sein einziger Gedanke gewesen. Der Kleinbus stand noch immer auf der Autobahn, Motor an. Schlüssel steckend. Portemonnaie, Handy, Hotelkarte.

Er verspürte noch immer kein Mitgefühl

Töfffahrer Bruno M., der Erste hinter dem Taxi, gab später zu Protokoll, er habe abgebremst, sei auf den Pannenstreifen gefahren und habe dafür gesorgt, dass hinter ihm die Fahrzeuge hielten, indem er den rechten Arm in die Höhe streckte. «Ich konnte kaum richtig anhalten, als die gestürzte Person schon halb kriechend, halb humpelnd ebenfalls auf den Pannenstreifen kam. Der Mann blutete am Kopf und, ich glaube, am rechten Fuss. Das ist, was ich so auf den ersten Blick erkennen konnte.» Um 19.48 Uhr rief Bruno M. die Polizei.

Taxifahrer S. hätte jetzt auf dem Pannenstreifen anhalten können, wie es das Gesetz nach einem Unfall verlangt. Vielleicht schwebte E. in Lebensgefahr und brauchte dringend einen Arzt.

Aber S. verspürte noch immer kein Mitgefühl. Im Gegenteil, er war erleichtert, dem gefährlichen Angreifer entkommen zu sein. Er setzte seine Fahrt fort. «Ich fuhr problemlos, wirklich problemlos mit der kaputten Frontscheibe», wird er später sagen. «Ich musste nicht das Fenster aufmachen, um rauszugucken, oder so. Wäre ich blind gefahren, hätte ich es nicht gemacht.» Sein Ziel war die Urania-Polizeiwache in der Innenstadt, er wusste, die ist 24 Stunden besetzt. Dort würde er erzählen, was geschehen war. Dass er attackiert worden war. Aber so weit kam er nicht. An der Walchebrücke beim Landesmuseum stoppte ihn ein Streifenwagen. Es war bereits eine Fahndungsmeldung herausgegangen.

S. musste den Polizisten auf die Kantonspolizei im Kreis 4 folgen und wurde verhört. 

«Ich bin angegriffen worden», wiederholte er, was er bereits den Streifenpolizisten gesagt hatte. Dieser Satz würde sein einziger Versuch einer Erklärung bleiben – schwer zu sagen, ob aus Dickköpfigkeit oder aus Mangel an deutschen Wörtern. Sein Tag endete im Polizeigefängnis, nach zwei Tagen wurde er ins Untersuchungsgefängnis verlegt.

Für Cengiz E. endete der Tag auf der Intensivstation der Unfallchirurgie, Universitätsspital Zürich.

«Der Untersuchte wies einen leicht reduzierten, jedoch stabilen Allgemeinzustand auf», steht später im rechtsmedizinischen Gutachten. Die Dokumentation der Befunde umfasst: zwei blutige Wunden am Kopf, Hautabschürfungen und Schürfwunden über den gesamten Körper verteilt, Hautunterblutungen, Achillessehne gerissen, Knochenbrüche am rechten Knöchel, am linken Grosszeh tief weggeschürfte «mediale Weichteile». Insbesondere die tiefe Verletzung des linken Grosszehs und die Knöchelfraktur könnten bleibende Beeinträchtigungen oder Komplikationen nach sich ziehen, heisst es.

Zwar begründe keine der vorliegenden Verletzungen die Annahme einer massiv erhöhten Lebensgefahr, resümiert der verantwortliche Arzt, aber: «Die Mitfahrt auf Autos, auch Carsurfing genannt, muss als lebensgefährlich betrachtet werden.»

Zwanzig Monate sind seit dem folgenschweren Sommerabend auf der A51 vergangen. Im August 2015 ist Josef S. wegen versuchter vorsätzlicher Tötung zu fünf Jahren Freiheitsstrafe erstinstanzlich verurteilt worden. Die Staatsanwaltschaft hatte acht Jahre Freiheitsstrafe beantragt, die Verteidigung zwei Jahre. Sein Anwalt wie auch die Staatsanwaltschaft haben Berufung eingelegt, nun wartet S. auf den Prozess am Obergericht, der im Juni stattfinden wird. Den Fahrausweis musste S. auf unbestimmte Zeit abgeben, was einem Berufsverbot gleichkommt. Gern hätte er noch ein paar Jahre länger gearbeitet.

«Wenn ich ein Segelboot hätte oder einen Schrebergarten oder Pferde im Stall, dann hätte ich keine Sekunde gegrübelt, sondern mich meinen Hobbys zugewendet», sagt er. S. hat weder Internet noch Fernseher. Er geht jetzt zweimal in der Woche auf den Markt und regelmässig am See spazieren. Wenn er mal einen Anruf macht, dann mit seinem alten Nokia 602.

«Ist einfach doof gelaufen», sagt E. in seiner Wohnung im deutschen Offenbach. «Ich hätte nicht anhalten müssen, und er hätte mich nicht umwalzen müssen.»

Schon bei der Gerichtsverhandlung hatte er viel Verständnis für S. gezeigt. Nachvollziehbar, dass S. Angst bekommen habe, nachdem er ihn ausgebremst hatte. Möglich, dass sein südländisches Aussehen und seine Grösse bedrohlich wirkten. «Ich will gar nicht, dass der Herr S. ins Gefängnis muss», sagt er. «Der macht sicher nie wieder ein Delikt.» Mit seiner sympathischen Art und seinen nachsichtigen Antworten hatte E. in den Vernehmungen das Bild des aggressiven, bedrohlichen Angreifers widerlegt, das S. gesehen hatte.

An der Wand in E.s Stube in Offenbach hängen Ferienfotos – im Auto, am Strand, im Auto.

Nach Monaten im Rollstuhl sind die Füsse von E. verheilt, die gerissene Achillessehne zusammengewachsen, der gebrochene Innenknöchel wieder belastbar. Sich mit der Kniekehle am Kletterfels einzuhängen und den Oberkörper hochzuziehen, dafür fehlt noch die Kraft im Bein. Ansonsten ist der Alltag wieder eingezogen in E.s Leben, er fährt morgens ins Büro, am Wochenende geht er klettern, abends trifft er Freunde in Bars.

Das Verfahren gegen ihn in der Schweiz wurde nach Art. 54 StGB eingestellt: «Ist der Täter durch die unmittelbaren Folgen seiner Tat so schwer betroffen, dass eine Strafe unangemessen wäre, so sieht die zuständige Behörde von einer Strafverfolgung, einer Überweisung an das Gericht oder einer Bestrafung ab.» Der Vorfall auf der A51 ist zu einer Anekdote geworden, die sich gut erzählen lässt, Party-Small-Talk. 

Anders sieht es für S. aus. «Wenn ich tatsächlich in den Knast muss, dann melde ich mich bei Exit an», sagt er.

Die wenigen Jahre, die ihm noch bleiben, in einer Gefängniszelle abzusitzen erscheint ihm so sinnlos, wie an Infusionsschläuche angeschlossen in einem Spitalbett zu liegen. Die 14 Tage im Untersuchungsgefängnis waren genug: der kahle Raum, das achtlos durch eine Luke geschobene Essenstablett, der Verzicht auf die tägliche Zeitungslektüre. Die Ungewissheit, wann er endlich rausdürfe. Keine Wortwechsel, ausser mit dem Wärter, der ihn zur Dusche führte. Die Untersuchungshaft habe keine psychischen Spuren bei ihm hinterlassen. Aber einen längeren Aufenthalt, fürchtet er, würde er nicht unbeschadet überstehen.

Noch immer geht jeden Morgen um 7.53 Uhr der Radiowecker an. Als ob es einen Grund gäbe, pünktlich aufzustehen. Der schwarze Skoda Superb mit Taxischild auf dem Dach und einer neuen Frontscheibe steht seit mehr als einem Jahr unbewegt in der blauen Zone. S. hat beschlossen, ihn bald zu verkaufen.

Wie es weiterging:

Die Verhandlung vor dem Obergericht Zürich im Juni 2016, bei der mehrfach aus diesem Artikel zitiert wurde, wurde unterbrochen. Der Verteidiger von Taxifahrer S. forderte ein forensisch-psychiatrisches Gutachten. Dieses attestierte S. eine stark verminderte Schuldfähigkeit wegen einer «akuten Belastungsreaktion». Das Obergericht verurteilte S. im Mai 2017 zu einer milden Strafe von zwei Jahren Haft auf Bewährung.